Die Prophezeiung der Steine
gelben Haare und blauen Augen, doch auf seine eigene Art war es wunderschön. Sie trug den Kopf stolz erhoben. Ash musste an die Geschichten des Seevolks denken, dem einzigen Volk, das Actons Überfall widerstanden hatte. Es hieß, dass diese den Kopf so hielten, stolz und unbesiegt. Die meisten Wanderer schauten zu Boden, nicht nach oben, damit ihr Blick nicht als Frechheit galt und einen Fluch oder Schlag hervorrief. Ashs Eltern hatten ihm beigebracht, den Blick nicht zu senken, sondern zur Seite zu richten, das Kinn zwar aufrecht, aber nicht hoch. »Man muss nicht noch um Ärger betteln«, hatte sein Vater gesagt, worauf seine Mutter den ganzen Tag lang in düsterer Stimmung gewesen war.
Die Steinedeuterin schaute auf den Geist und seufzte. »Nun? Was ist das?«, fragte sie Hildie.
»Ich habe sie getötet«, erwiderte Ash.
Die Steinedeuterin drehte sich um und schaute ihn an. Als ihre grünen Augen den seinen begegneten, verspürte er das gleiche Kribbeln im Bauch, das er bei Doronit hatte, die gleiche Verwirrung und einen Wiedererkennungseffekt. Wie bei Doronit waren dies Augen, die er kannte. Und mehr noch, die Frau hatte ein Sprechmuster und eine singende Stimme, die zwar fast gänzlich vom Tonfall der Turviter überdeckt wurde, aber dennoch vorhanden war - ein Palimpsest einer früheren Geschichte. Diese Stimme ließ
das Bild von Nächten auf der Wanderschaft aufkommen, an Feuerkreisen verbracht, von Geschichten und Liedern in einer Sprache, welche die Turviter nicht verstanden hätten.
»Sie hat versucht, mich umzubringen«, fügte er hinzu und unterdrückte dabei sorgsam alles, was nicht zur Sache gehörte. Er wandte sich dem Geist zu. »War es nicht so?«
Der Geist schaute ihn ausdruckslos an.
So würde er sie nicht davonkommen lassen. Seine Stimme wurde schärfer. » War es nicht so?«
Widerwillig machte der Geist den Mund auf. »Ja.«
Wie immer war es eine tiefe, wie Stahl auf Fels kratzende Stimme, ein Geräusch, das ihn bis in die Fingerspitzen hinein erschaudern ließ. Sie erschreckte sie alle drei, und Hildie wirkte schockiert und ein wenig besorgt. Sie schaute Ash so an, als nehme sie ihn erst jetzt richtig wahr.
»Ich wusste gar nicht, dass sie reden können«, sagte sie. Die Steinedeuterin zog die Brauen hoch, aber nicht gegenüber dem Geist, sondern gegenüber Ash. Sie wirkte nicht überrascht. »Nun, dann setzt euch.«
Der Geist, Martine und Ash setzten sich auf den Teppich. Durch den Körper des Geistes hindurch konnte Ash das Gelb und Blau des Wollteppichs schwach schimmern sehen.
Hildie atmete tief ein und beruhigte sich wieder. »Hat nichts mit mir zu tun«, sagte sie schulterzuckend. »Ich bin hier, um Wache zu halten.« Sie schob den Metallriegel vor die Tür, holte einen Keil aus ihrem Beutel, brachte ihn zwischen Riegel und Tür an und trat dann an das Fenster, das zur Straße zeigte. Sie nahm auf der Fensterbank Platz und ließ ihren Blick langsam und prüfend hin und her schweifen.
Martine spuckte sich in die linke Hand und hielt diese dann dem Geist entgegen, der die seine hineinlegte. Ash
bemerkte, dass die Berührung Martine einen Schauder versetzte; er kannte selbst dieses Gefühl, diesen plötzlichen Geruch von Erde und Berührung durch kalten Stein.
Die Deuterin holte ihren Steinebeutel hervor und warf mit der rechten Hand fünf Steine auf den Teppich. Die Steine fielen auf seine Musterung und landeten alle auf der gelben Fläche. Alle lagen mit der Stirnseite nach unten.
»Tod. Verdeckter Tod. Das ist deiner«, sagte sie zu dem Geist.
Der Geist nickte.
»Dann Flucht. Gefahr. Befreiung.« Sie drehte den letzten Stein um und zögerte.
»Was ist es?«, fragte Ash.
»Tod der Seele«, sagte Martine leise. Sie schaute hoch in die leeren Augen des Geistes. »Das ist er, nicht du.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Ash.
Martine wurde energisch. »Diese Steine hier erzählen die Geschichte ihres Todes: Tod, Flucht - das bist du, der wegläuft - und Befreiung. Ich würde sagen, dass dieser jungen Dame der Tod besser gefällt als das Leben.« Der Geist nickte.
Ash spürte, wie ihm Mitleid in die Seele schnitt. »Es … tut mir leid«, brachte er hervor und schaute einen Augenblick zu tief in die Augen des Geistes, sodass ihm schwindelig wurde.
»Also«, sagte Martine. »Sie ist gekommen, um ihre Schuld dir gegenüber zu begleichen, indem sie dich warnt. Du befindest dich in Gefahr - Gefahr, deine Seele zu verlieren, den zu verlieren, als den die Götter dich haben wollen.
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