Die Prophezeiung der Steine
meidet. Aber Martine hat sich geweigert.«
Ash grinste. »Ein Sprichwort der Wanderer lautet: ›Wer vor dem Tod davonläuft, hat die alte Dame als Gesellschaft. ‹«
»Sag das Ranny.«
»Ich verstehe immer noch nicht, wieso Ranny Martine töten lassen will.«
»Wenn Ranny den Zeitpunkt ihres Todes nicht in Erfahrung bringen kann, darf ihn auch kein anderer wissen. Das hat sie gesagt.«
»Woher weißt du das?«
»Dufe hat es mir gesagt.«
Ash lachte in sich hinein. Ranny hatte sich den Falschen ausgesucht. Dufe war als Schutzwache weit davon entfernt, ein Mörder zu sein. Deshalb stellte Ash sich nun die Frage, ob Dufe je eine von Doronits Prüfungen in den Gassen von Turvite absolviert hatte. Ob er die kleine Diebin getötet hätte? Irgendwie konnte sich Ash nicht vorstellen, dass er überhaupt diese Gasse entlanggegangen wäre. Vielleicht hatte ihn Doronit ja deshalb gefeuert.
Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten sie das Haus der Steinedeuterin. Es war ein kleines Haus mitten in der Altstadt, und auf seiner Fassade prangte das Zeichen der Deuter, ein vom Balkon herabhängendes übergroßes Leinentuch, das auf die Straße hinausragte. Ash hätte das Haus jedoch ohnehin erkannt - neben der Tür stand ein lockerer Kreis von Geistern, die auf Einlass warteten. Die meisten standen mitten auf der Straße, aber das scherte sie nicht, denn Geister in Turvite waren es gewohnt, dass man einfach durch sie hindurchging.
Martine stand auf dem Balkon und schaute auf sie herab. So war das Erste, was er von ihr zu sehen bekam, ihr auf dem Kopf stehendes Gesicht, an dessen Seiten langes dunkles Haar herabfiel, sodass es aussah, als würde er in einen Tunnel hinaufschauen, an dessen Ende ihr blasses Gesicht erschien. Sie schien sehr groß gewachsen.
»Einfach drücken«, sagte sie. »Es ist immer auf.« Ihre Stimme war kräftig, wies jedoch einen lieblichen Beigeschmack auf, der süß wie frischer Honigwein war.
Die Geister waberten und bewegten sich nach vorn, begleiteten sie jedoch nur bis an die Tür. Die Steinedeuterin musste die Tür mit einem Bann belegt haben. So etwas geschah häufig. Ein Geist konnte nur dann eintreten,
wenn er in einer Verbindung zu dem menschlichen Besucher stand.
Hildie hielt Ash die Tür auf, doch der wartete, weil sich ein Geist anschickte, ebenfalls einzutreten. Ash schluckte heftig und musste gegen Übelkeit ankämpfen. Es war das Mädchen, das er getötet hatte, das war glasklar, und sie hatte die stark ausgeprägte Blässe der erst kürzlich Verstorbenen, sah aus, als habe jemand sie mit weißem Wachs auf einer schwarzen Schiefertafel gezeichnet. Er konnte, natürlich, durch sie hindurchsehen, aber es war, als sehe man durch Nebel hindurch oder durch ein Spinngewebe. Er ließ sich zurückfallen, doch der Geist bestand darauf, ihm den Vortritt zu lassen. Ash erkannte, dass er wegen des Bannes zuerst eintreten musste, woraufhin der Geist mit einer Welle von Kälte und Grabesgeruch folgte.
Er trat an ihm mit jenem Frösteln vorbei, das sich stets bei ihm einstellte, wenn er an einem Geist vorbeikam, und er verspürte ein Prickeln am Rücken. Den Turvitern schien dies nichts auszumachen. Wenn man von Geburt an von Geistern umgeben war, gewöhnte man sich vermutlich an sie. Als er nach Turvite gekommen war, hatte er mit Freude festgestellt, dass jeder die Geister sehen konnte. Anderswo war er zumeist der Einzige gewesen, er und seine Mutter, obschon sie so tat, als könne sie sie nicht sehen. In Turvite waren die Geister so stark, dass jeder wusste, dass sie da waren - man war stolz auf sie.
Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, dass der Geist hinter ihm ebenfalls durch die Tür glitt. Hildie hielt die Tür noch einen Augenblick auf, bevor sie folgte, als sei sie sich nicht ganz sicher, ob der Geist nun eingetreten war oder nicht. Dann ließ sie das massive Schloss zuschnappen.
Der Raum wurde von Lampenlicht und dem Schein des Feuers erhellt, das auf blassgelbe Wände und leuchtend blau
gestrichenes Balkenwerk fiel. An der Decke zog sich ein Zierstreifen mit springenden Fischen entlang, der sich von dem Gelb abhob. Es war, als komme man nach der trüben Dämmerung, die auf der Straße herrschte, ins Tageslicht. Ash blinzelte und wandte den Blick von dem Geist ab.
Die Steinedeuterin war die Treppe heruntergestiegen, um sie zu begrüßen. Sie war tatsächlich groß, hatte ganz wei ße Haut und große, grüne Augen. Sie hatte ein sonderbares, fremdartiges Gesicht in dieser Stadt der
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