Die Prophezeiung der Steine
ich wissen will, und wir haben einen Waffenstillstand.«
Martine hatte es in Erwägung gezogen, das hatte sie Ash auf dem Weg erzählt. Doch jemandem das Datum seines Todes zu nennen hieß, sein Leben zu vernichten. Das hatte Ranny zwar verdient, dachte Ash, hatte es herausgefordert, indem sie versucht hatte, Martine ermorden zu lassen. Aber ein schneller Tod und Wiedergeburt waren eine Sache; ein lebender Tod, unter Qualen, war eine andere …
Martine schüttelte den Kopf und ließ ihre Stimme sanft klingen. »Du wirst es nicht glauben, aber dieses Geheimnis hüte ich aus dem Wunsch heraus, dich nicht noch mehr zu verletzen, als ich es ohnehin schon getan habe.«
»Du hättest mir nie sagen dürfen, dass du es weißt!«
Martine senkte den Kopf so, dass ihr schwarzes Haar wie ein Vorhang vor ihr Gesicht fiel. »Das ist wahr. Ich hätte es vor dir geheim halten müssen. Aber ich war überrascht, dass es da war, so klar in den Steinen stand.«
Ranny funkelte sie böse an. »Heuchlerin!«, zischte sie. »Kein anständiger Steinedeuter würde je jemanden wissen lassen, dass er seinen Todestag entdeckt hat.«
»Das ist wahr«, sagte Martine.
»Also dann!«, rief Ranny aus. Sie stand hinter dem Schreibtisch auf und ging im Zimmer auf und ab. »Sag mir einfach wann . Wenn ich wüsste, wann, könnte ich planen.«
Ash erkannte Rannys missliche Lage. Sollte sie Kinder haben, auf die Gefahr hin, nicht lange genug zu leben, um sie großzuziehen? Sollte sie sie sofort bekommen, damit sich ihre Blutlinie fortsetzte? Sollte sie einen ihrer Brüder ausbilden, damit er das Geschäft übernehmen konnte und ihre Familie nicht Not leiden müsste, wenn sie selbst starb? Oder würde sie so lange leben, dass das Ausbilden eines Familienmitglieds zu ihrem Nachfolger ihn verärgern und verbittern würde, wenn er gar keine Gelegenheit dazu erhielt, ihre Nachfolge anzutreten?
»Ich muss es wissen«, sagte sie. »Du bist es mir schuldig.«
»Du hast versucht, mich umzubringen«, erwiderte Martine.
»Du hast mein Leben ruiniert. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht arbeiten … Wenn du tot bist, wäre ich wenigstens wieder an dem Punkt, wo alle anderen sind, ohne Möglichkeit, es je zu erfahren.«
»Oh …« Diese Erklärung verblüffte Martine. Ash konnte sie verstehen. Ja, darin lag Logik und sogar Gerechtigkeit. Martine nickte, nun ebenfalls begreifend.
»Du denkst, du könntest für mich wählen, aber ich möchte für mich selbst wählen können«, sagte Ranny. »Du behandelst mich wie ein Kind, weil du die Gabe besitzt und ich nicht.«
In diesen Worten lag so viel Wahrheit, dass Martine innehielt. Steinedeuter neigten tatsächlich dazu, ihre Kunden wie Kinder zu behandeln, die geführt werden mussten - nicht von ihnen, sondern von den Steinen. Hatte Martine sich angemaßt, arrogant zu werden und eine Wahl zu treffen, die rechtmäßigerweise Ranny zustand?
Ash schaute in die hübschen blauen Augen und erkannte darin Ehrgeiz, Zorn, Rücksichtslosigkeit, aber keine ausgesprochene Scharfsinnigkeit. Es mochte schon sein, dass Martine Ranny wie ein Kind behandelte, aber vielleicht befand sie sich damit auch auf der sicheren Seite.
»Ich muss wissen, wann «, sagte Ranny.
Martine schüttelte den Kopf.
»Dann wirst du sterben.«
Ranny verließ das Zimmer als Erste. Das Mädchen begleitete die beiden daraufhin zur Eingangstür.
Während des gesamten Rückwegs zum Haus von Martine war Ash in höchster Alarmbereitschaft. Er wünschte sich, Doronit hätte zusätzlich noch Hildie oder Aelred geschickt, um ihnen den Rücken zu decken. Er war erleichtert, als er die Tür von Martines Haus hinter ihnen beiden zumachte.
»Meinst du, ich habe das Richtige getan?«, fragte Martine, während sie Ash seine Bezahlung aushändigte.
Ash zögerte. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Wahrscheinlich hätte ich es ihr gesagt, aber - sie sieht nicht aus wie eine Frau, die ihr Schicksal unbedingt annimmt.
Wenn du es ihr gesagt hättest, hätte sie alle Hebel im Bewegung gesetzt, um ihren Tod zu vermeiden, und dann …«
»›Wer vor dem Tod davonläuft, hat die alte Dame als Gesellschaft‹«, sagte Martine.
Ash nickte. »Du weißt, dass es so ist.«
»Ja«, sagte Martine und entspannte sich ein wenig. »Ich weiß jeden Tag weniger, aber das weiß ich.« Sie lächelte. »Danke, Ash. Wir sehen uns dann in zwei Tagen.«
Nachdem Ash die Männer im Haus von Martine getötet hatte, stellte er fest, dass ihm immer wieder ein Moment
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