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Die Prophezeiung der Steine

Die Prophezeiung der Steine

Titel: Die Prophezeiung der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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doch seine Mutter legte sich wie immer einen Finger auf die Lippen, als sein Vater eine schmerzverzerrte Miene machte. Im Rückblick begriff er, dass dies das letzte Mal gewesen war, an dem er versucht hatte, für seine Eltern zu singen. Es war der Tag gewesen, an dem er begriffen hatte, dass er niemals Sänger sein würde, obwohl er es doch so gern geworden wäre. Falls er Musiker werden würde, dann würde er Flöte spielen müssen wie sein Vater.
    Die Sonne ging gerade unter, als er das Haus der Steinedeuterin erreichte. Nur noch ein Geist war dort verblieben, ein dünnes, altes Gespenst, das so aussah, als habe es schon tausend Feste erlebt. Ash nickte ihm zu, und der Geist erwiderte die Geste. Hinter dem Geist leuchtete der Himmel orangefarben und golden, es war ein typisch herbstlicher Sonnenuntergang. Dies munterte Ash auf, und er klopfte mit mehr Energie an die Tür, als er seit Tagen verspürt hatte.
    Martine öffnete ihm. Wo der blutbefleckte Vorleger gewesen war, lag nun eine Matte aus Schaffellen, die im Licht der Lampen weiß leuchtete. Martine nahm im Schneidersitz am Rand der Matte Platz und bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen. Dies tat er und beobachtete dabei ihre langen Hände und ihre Augen mit den schweren Lidern. Von ihr schien ein dunkles Geheimnis auszugehen.
    »Es sind nicht immer auf die Minute genau drei Tage«, sagte sie. »Manchmal dauert es nur wenige Stunden. Aber es ist ja auch nicht der erste Fall von Wiedergängertum, dem du beiwohnst, nicht wahr?«

    Ash schüttelte den Kopf. Daran, dass Martine die Stirn in Falten zog, bemerkte er, dass ihn seine Reaktion in ihren Augen mehr als ein Mörder wirken ließ, als er es tatsächlich war. Aber er wollte nicht näher auf seine Vergangenheit eingehen, wollte nicht über seine Eltern sprechen. Ganz im Westen des Landes wurden Musiker häufig zu Fällen von Wiedergängertum gebeten. Dort glaubten die Menschen, dass sanfte Musik dem Geist auf seinem weiteren Weg half, vor allem jenen Geistern, die durch Unfall, Gewalteinwirkung oder plötzliche Krankheit ums Leben gekommen waren. Das waren diejenigen, die Wiedergänger in die Wachwelt wurden. Seine Mutter hatte ihn gelehrt, dass die anderen Geister, die nichts ungeklärt hinterlassen hatten, auf ihrem weiteren Weg direkt wiedergeboren wurden. Obwohl es hieß, dass ein Geist drei Tage nach seinem Tod Wiedergänger wurde, hatten seine Eltern häufig die ganze Nacht oder den ganzen Tag hindurch gespielt, bevor der Geist erschien. Außerhalb von Turvite war ein Fall von Wiedergängertum die einzige Gelegenheit, bei der die meisten Menschen einen Geist zu sehen bekamen. Was nicht hieß, dass diese Geister so lebendig gewirkt hätten, wie sie es in Turvite waren. Turvite hatte die stärksten Geister auf der Welt.
    »Du hast altes Blut in deinem Gesicht«, sagte Martine, während sie ihn musterte. Einen Augenblick glaubte er, sie meine echtes Blut und wolle ihn als Mörder brandmarken. Sie bemerkte seine Verwirrung. »Ich meine, du siehst aus wie einer von denen, die vorher in diesem Land lebten - die Ureinwohner.«
    Er fühlte sich zu einer Erklärung genötigt. »Ich bin ein Wand … - meine Eltern sind Wanderer. Musiker. Sie haben mir erzählt, dass, als Acton und seine Leute kamen, ein großer Teil des alten Volkes auf Wanderschaft ging, weil keiner mehr eigenes Land besaß.«

    »Ja«, sagte Martine grüblerisch. »So ist es. Wusstest du, dass man deshalb die Geister sehen kann?«
    »Hier kann sie doch jeder sehen!«, protestierte er. Er war nicht gewillt, sich noch mehr als Außenseiter abstempeln zu lassen, als es seine dunklen Haare und Augen ohnehin bewirkten.
    Martine lächelte ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein. In Turvite, wo die Geister stark sind, kann jeder etwas … wahrnehmen. Ein Schimmern in der Luft, ein leichter Windhauch, eine Blassheit dort, wo Dunkelheit sein sollte. Manchmal können sie einen Blick auf Augen erhaschen, Haare, eine Hand. Sie spüren im Vorbeigehen Kälte. Das ist alles.«
    »Aber die Turviter reden doch die ganze Zeit von Geistern. Hier sind sie so deutlich. Es ist, als hätte man… Wei ße vor sich.«
    »Für mich ist das so und für dich auch. Für Doronit auch, denke ich. Für einen auf tausend vielleicht. Und nur einer von tausend kann sie zum Sprechen bringen, wie es dir vor drei Tagen gelungen ist. Ich kann das nicht.«
    Weil Ash ihr glaubte, überkam ihn Traurigkeit. Was er unter anderem an Turvite liebte, war die Tatsache, dass hier jeder

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