Die Prophezeiung der Steine
entgangen zu sein, sondern auch mit einer Leere, die sie schon immer in sich verspürt hatte. Sie hatte geglaubt, diese Leere sei durch ihre Liebe zum Reiten und zu dem Rotschimmel ausgefüllt worden, doch sie hatte sich getäuscht. Sie war nach wie vor da, nur besser versteckt, tiefer in ihr vergraben.
Die Prophezeiung, dass sie niemals lieben würde, verwirrte sie mehr, als sie es sich eingestehen wollte. Sicher, wenn die anderen Mädchen in ihrem Alter beim Springtree-Tanz, während die Jungen sie herumwirbelten und anlächelten, kicherten, und wenn sie über die Augen des einen oder die Hände des anderen tratschten, hatte Bramble sich stets gefragt, warum sie selbst außer Verlangen nichts für einen von ihnen empfunden hatte. Warum sie außer Zuneigung für Wilf, den süßen, aber hässlichen Jungen, den die anderen Mädchen ignorierten, nichts spürte.
Sie hatte sich diese Frage gestellt, dann aber beiseitegeschoben, bis Maryrose Merrick nach Hause brachte, um ihn ihrer Familie vorzustellen. Bramble erkannte, warum Maryrose ihn liebte, konnte sich so etwas für sich selbst aber nicht vorstellen, obwohl sie es immer wieder und mit Macht versuchte.
Hatte sie denn ein so hartes Herz? Sie konnte freundlich sein - ihre Fähigkeit, verwaiste Lämmer und Zicklein aufzuziehen, sie zu versorgen und ihnen einen Lebenswillen zu geben, war weithin bekannt. Auch galt sie als gute Pflegerin für Kinder und Alte. »Ein ungestümes Herz, aber sanfte Hände«, so hatte eine alte Frau im Dorf sie einmal beschrieben. Sie konnte mitfühlend sein gegenüber Jung und Alt, gegenüber Kranken und Sterbenden, Unglücklichen und Verrückten.
Aber Liebe … Liebe zu einem Mann hatte sie nie empfinden können. Vielleicht würde sie dies auch niemals, nun, da sie ein Wesen aus Fleisch und Blut, doch ohne Gefühle war. Vielleicht würde sie niemals lieben, niemals heiraten.
»Ist das denn etwas so Schreckliches, Pferd?«, fragte sie, und wie zur Antwort wieherte der Rotschimmel leise und rieb seine weiche Nase gegen ihr nacktes Bein. Sie fühlte sich ein wenig getröstet und hoffte, von der Stille des Gro ßen Waldes noch mehr Trost zu erfahren.
Der Weg war länger, als sie gedacht hatte, und sie war erst bis Pless gekommen. Der Herbst wurde rauer, und ihr Geld ging fast zur Neige.
Am späten Nachmittag eines bewölkten Tages, als sich ein Sturm drohend am Himmel abzeichnete, ritt sie durch Weideland in einem Tal, das zu beiden Seiten von tiefem Wald flankiert war. Auf halbem Weg durch das Tal blieb der Rotschimmel abrupt auf der Straße stehen.
Bramble war überrascht und hatte keine Ahnung, warum er eine Pause einlegte. Ermutigend schnalzte sie mit der Zunge, doch statt seinen Gang fortzusetzen, führte er eine kleine Drehung aus und trabte durch ein offenes Tor neben der Straße. So hatte er sich noch nie verhalten, dennoch war es, als wüsste er genau, was er da tat. Also ließ Bramble ihn gewähren und achtete lediglich darauf, nicht herunterzufallen - denn der Trab war die einzige Gangart, die sie noch nicht beherrschte. Als er dies spürte, wurde der Rotschimmel langsamer, wechselte zu einem Schritt über und hielt auf eine umzäunte Wiese zu, auf der ein Mann sich gerade sanft mit einem kastanienbraunen Fohlen beschäftigte.
Der Mann hatte dunkelbraunes Haar und einen gro ßen, gelenkigen Körper, der in seiner Jugend schlaksig gewirkt haben musste. Richtig gut sah er nicht aus, nicht wie Merrick, doch dass er zu dem Pferd sprach wie mit einem Menschen, verlieh ihm einen gewissen Charme. Allerdings mochte er so charmant sein, wie er wollte, er war mindestens doppelt so alt wie sie.
Sie beobachtete ihn eine Weile und musste lächeln, als er dem Fohlen einen Streich spielte, indem er zum Schein von ihm wegging und dieses ihm aus Neugier folgte. Er bewegte sich ruhig und drängte sich dem Fohlen nie auf, sondern wartete, bis es von sich aus die Berührung seiner Hände suchte. Als es ihm schließlich gelungen war, ihm das Halfter anzulegen, bemerkte er Bramble am Gatter. Sie saß in der für sie typischen Haltung auf dem Pferd, hatte ein Bein über dessen Schulter gelegt, ohne Sattel, ohne Zügel und Zaumzeug, und fühlte sich sichtlich wohl dabei.
Er lächelte sie an. Dabei blitzte aus seinen grauen Augen der Charme, ganz ohne jenes automatische Misstrauen, das ihr die meisten Sesshaften entgegenbrachten, seit sie auf der Wanderschaft war. »Bring ihn rein«, bot er ihr an. »Es
wird der Stute guttun, wenn sie sieht,
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