Die Prophezeiung der Steine
Mute gewesen sein musste, wenn er sich Sorgen um uns machte. »Was geschieht, wird geschehen. Und vielleicht gibt es ja in Freewater einen Steinedeuter, der uns sagen kann, was es ist.«
Das munterte ihn auf und mich auch, denn es war eine gute Idee, auf die ich schon früher hätte kommen sollen.
So fanden wir eine Scheune am Stadtrand von Freewater, und der Bauer ließ sie uns benutzen und Wasser aus seiner Quelle holen. Ber und ich richteten es Mama ein, und an diesem ersten Abend hackten wir für sie Holz, holten ihr Wasser und setzten uns zum Essen zu ihr, und es war so, wie es immer gewesen war, sie lachte endlich wieder einmal. Es war wie ein Geschenk, und es bewegte mich dazu, auf der Stelle zu handeln.
»Wir gehen jetzt nach Freewater«, beschied ich ihr direkt nach dem Essen, während sie noch die Teller abräumte. »Wir gehen zu einem Steinedeuter, um zu sehen, was er zu dieser Sache sagt.«
Sie wurde blass, blieb wie angewurzelt stehen, und Ber musste ihr den Teller aus der Hand nehmen, damit sie ihn nicht fallen ließ. Aber sie nickte und setzte sich. »Ja. Es wird Zeit, höchste Zeit, sich der Sache zu stellen.« Ihre Augen füllten sich jedoch mit Tränen. Und im Raum wurde es kalt. »Oh, mögen die Götter uns beschützen«, flüsterte Mama.
Ber stand mit ausdrucksloser Miene auf, zitternd, und das Licht wurde schwächer. Mir wurde übel, wie es immer geschah, doch dieses Mal stand ich auf und stellte mich dem Dämon.
»Geht nicht zum Steinedeuter«, sagte dieser.
»Was willst du von uns? Warum kommst du? Warum quälst du uns so?« Mir lagen hundert Fragen auf der Zunge, ich konnte mich aber kaum überwinden, etwas zu sagen.
Er neigte Bers Kopf, und auf seinem Gesicht stand Verwirrung; es war das erste Gefühl, das er jemals zum Ausdruck brachte. Er schien nach Worten zu suchen, wo ihm die Worte zuvor doch immer so leicht gekommen waren.
»Ich helfe«, sagte er schließlich.
»Du stiehlst den Körper meines Bruders und nennst das Hilfe?«
»Ich … warne. Gefahr ist im Verzug, sage ich euch.«
Zorn bemächtigte sich meiner, das spürte ich, und ich wusste, dass ich diesen zügeln musste, weil sonst Ber Schaden genommen hätte. »Warum wir? Warum folgst du uns? Lass uns in Frieden! Lass uns unseren eigenen Weg gehen.«
»Nein!«, heulte er auf, wobei Schaum aus Bers Mund drang. »Ich habe mich euer ganzes Leben lang um euch gekümmert, und ich sage euch, ich werde jetzt nicht damit aufhören, nicht jetzt, noch nicht …«
»Griff«, sagte Mama so leise und sanft, dass es einem das Herz brechen konnte. »Griff, mein Schatz, du bist tot. Es ist Zeit, loszulassen. Zeit, dich zu verabschieden.«
Er ließ Ber den Kopf schütteln, den ganzen Körper. »Nein, nein, nein, nein …«
»Sie sind erwachsen, Liebster.« Mama berührte Bers Gesicht und schaute ihm in seine ausdruckslosen Augen. »Sie können selbst auf sich aufpassen.«
Auch ich zitterte nun, da ich unter Bers Stimme die von Papa herausgehört hatte. Aber er hörte nicht auf Mama. »Siehst du denn nicht, was du uns antust, Papa?«, sagte ich. »Du meinst, du würdest uns beschützen, aber in Wirklichkeit saugst du das Leben aus uns allen, nicht bloß aus Ber.«
»Ich würde euch nie wehtun …«
»Es tut jedes Mal weh! Du hast kein Recht dazu. Du hattest nie ein Recht, dich an uns zu klammern. Der Versuch hat dich das Leben gekostet. Lass los - um Himmels willen!«
»Lass los, Liebster«, sagte Mama.
»Liebste«, flüsterte er.
»Ja«, sagte sie, »ja, ich weiß, dass du es tun wirst.«
Er drehte Bers Kopf, um sie anzuschauen, und eine Weile
war er wirklich da und schaute sie aus Bers Augen an - mein alter Papa, störrisch wie früher schon.
»Liebste«, sagte er wieder. Dann schloss Ber die Augen und stürzte zu Boden. Mir war es, als hätte ich zweimal zugeschaut, wie mein Papa starb, und beide Male war ich es, der ihn tötete. Hinterher ging ich zur Steinedeuterin, und sie las Schuld, Tod und Liebe aus den Steinen, die alle mit der Stirnseite nach unten lagen. Nur Neubeginn und der leere Stein lagen mit dem Gesicht nach oben. Und das bedeutet, dass die Zukunft ein offenes Ende hat und von diesem Moment an alles möglich war.
Saker
Die Götter mussten ihn nach Connay geführt haben, befand Saker, während er der hohen, makellosen Stimme der Sängerin lauschte. Die Menge in dem Gasthaus hatte kein Ohr für ihre Vollkommenheit; die Leute knallten ihre Humpen im Takt zu der monotonen Trommel auf den Tisch und stampften
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