Die Prophezeiung des Adlers
sie nicht entkommen konnten, und sie hatten keinen Verbündeten, der versuchen würde, sie zu entsetzen. Ihre Niederlage war so sicher, wie die Nacht auf den Tag folgt. Nur in einem war der Erfolg noch zweifelhaft: Bei dem geheimen Zweck, für den all dieses Blut vergossen worden war – der Rückeroberung der Schriftrollen. Das würde heikel werden, sagte sich Vespasian. Falls sie sich noch in Telemachos’ Besitz befanden, würde er mit Sicherheit versuchen, sie als Pfand bei Verhandlungen einzusetzen. Doch das war etwas, was Vespasian nicht so ohne Weiteres zulassen konnte. Die Flotte Ravennas würde jede Abmachung, die die Piraten ihrer Strafe entzog, äußerst übel nehmen. Die Gefahr einer Meuterei – beinahe das schlimmste Schicksal, das einem Kommandanten zustoßen konnte – wäre sehr real.
Der Kampfeslärm war fast erstorben. Nun hörte man nur noch die jämmerlichen Schreie der Verwundeten und gelegentliches Waffenklirren von vereinzelten Duellen, bei denen die letzten Piraten, die noch Widerstand leisteten, ihr Leben teuer verkauften.
Vespasian stieg vom Turm auf das Vordeck der Horus hinunter, sehr zufrieden, aber erschöpft von den anstrengenden Tagen, seit er das Kommando der Flotte übernommen hatte. Bald war der Kampf vorüber, und wenn alles gut ging, würde er im Triumph nach Rom zurückkehren und Narcissus die Schriftrollen übergeben.
Als die Bucht von den letzten Piraten gesäubert war, begann die römische Flotte mit dem Entladen der Ausrüstung und der Vorräte. Einige Gefangene wurden sofort bei Arbeiten eingesetzt. Sie mussten quer über den Dammweg einen Verteidigungsgraben ausheben und einen Wall aufwerfen, damit ihre Kameraden in der Festung nicht entkommen konnten. Andere errichteten eine Palisade um den römischen Landekopf.
NachdemVespasiansichüberzeugthatte,dassdasAusschiffengeordnetvorsichging,fuhrermiteinemkleinenBootüberdieBuchtzuderStelle,woMacrosSchiffeineinemGewirrherabgestürzterTakelagenzwischentreibendenWrackteilenundLeichenimWasserlagen.StrömevonBlutrannenausdenSpeigattenandenSeitenderGaleerenhinunter.ImHolzderRümpfestecktenPfeilschäfteundschwereBolzen.AlsdasBootdesPräfektendurchdasTreibgutderSchlachtaufdieSchiffezusteuerte,tauchtendieerschöpftenÜberlebendenandenRelingsauf,undjemandstießeinenrauenJubelruffürdenKommandantenaus.NachdemseinBootlängsseitseinerderBiremenangelegthatte,kletterteVespasiandiehölzernenSprossenderBordleiteranDeckhinauf.SofortstachenihmdieBeweisedafürinsAuge,wieheftigdieseMännersichgewehrthatten,währendsieaufdenRestderFlottewarteten.UmdenMastwarenLeichenaufgetürmt,unddieDeckswarenmitgetrocknetemBlutverschmiertundvonweggeworfenenWaffenundAusrüstungsgegenständenübersät.VonobenbaumeltedieRahbeinahesenkrechtherab,undanSteuerbordschwanktendiebeschädigtenWantenträgeimWind.
»Wo ist Centurio Macro?«, fragte er den erstbesten Marineinfanteristen.
Der Mann zeigte übers Deck auf die Trireme, die die anderen Schiffe überragte. »Dort, Herr.«
Vespasian überquerte das Deck und bestieg die Bordleiter der größeren Galeere. Auch sie trug die Narben des zurückliegenden Kampfes, und in diesen letzten Rückzugsraum hatte man alle Verwundeten geschafft. Sie lagen oder saßen in langen Reihen entlang der Reling, und mehrere Marineinfanteristen waren damit beschäftigt, zu ihrem Schutz Sonnensegel anzubringen. Einige der Verwundeten salutierten, als der Präfekt vorbeiging. Macro kam die Stufen vom Achterdeck herunter und trat mit einem breiten Lächeln auf Vespasian zu. Der Centurio trug einen dicken Verband um die Brust, und dort, wo Blut durch den Stoff gesickert war, sah man eine rotbraune Kruste.
»Ich bin froh, dich zu sehen, Centurio.«
»Ich auch, dich zu sehen, Herr.« Macro salutierte. »Auch wenn wir uns eine Weile Sorgen gemacht haben.«
»Sorgen?« Vespasian blickte sich nach dem zernarbten Rumpf und der zerfetzten Takelage um. Er konnte sich die Verzweiflung der Männer, die hier ausgeharrt hatten, während die Flotte zur Bucht eilte, gut vorstellen. Lächelnd wandte er sich wieder an Macro: »Du hast doch gewiss nicht an mir gezweifelt, Centurio? Ich hatte gehofft, nach all den Jahren gemeinsamen Dienstes hättest du ein wenig mehr Vertrauen.«
»Oh, ich wusste, dass du kommen würdest, Herr. Ich wusste nur nicht, ob ich noch hier sein würde, wenn du eintriffst.«
»Nun, das bist du ja. Ich hoffe, du hast gut auf Ajax aufgepasst.«
Macro nickte zur Hauptluke hinüber. »Der ist unten, Herr. Ich habe ihn nach der
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