Die Prophezeiung von Umbria
hatte.
“Sie lebt dort drüben.” Der Mann deutete auf das letzte einer Reihe Häuser, die sich an Exildas kleinen Besitz anschlossen.
Das schmale Haus schien für sein Fundament zu hoch zu sein. Eine Reihe kräftiger Bäume reckten ihm ihre ausladenden Äste entgegen, als wären sie bereit, es aufzufangen, sollte einmal ein starker Wind es umpusten wollen.
Schon einmal hatte heute jemand Maura dieses Haus gezeigt. Es war die unangenehme Frau gewesen, die versucht hatte, sie von Exildas Brunnen zu vertreiben.
“Wundert Euch nicht, wenn sie Euch kein freundliches Willkommen bietet”, fügte der Mann hinzu. “Die alte Gristel hat eine Art, bei der sogar frische Milch sauer wird.”
“Wir sind uns schon begegnet”, meinte Maura trocken.
Die Aussicht, diese widerliche Person noch ein drittes Mal zu treffen, gefiel Maura ganz und gar nicht. Doch sie dankte dem Mann für die Warnung und seine Auskunft. Dann ging sie entschlossen auf Gristel Maldwins Haus zu.
Weit im Westen näherte die Sonne sich immer mehr den schroffen, hohen Spitzen des Blutmond-Gebirges, die an die gierigen Zähne einer Bestie erinnerten, die ihre Beute verschlingen wollte.
Die Gefahr kam immer näher, und es war keine der üblichen Gefahren. Maura erinnerte sich daran, wie der Pfeil des Han-Soldaten über sie hinweggezischt war, an dem Tag, als sie Rath gerettet hatte. Und wie die Gesetzlosen sie mitten in der Nacht ergriffen hatten. In keinem Moment hatte sie dieses Entsetzen empfunden.
Sie zog eine Hand voll frisches Traumkraut aus dem Gurt. Mit den Kräutern in der einen und dem letzten Rest Spinnenseide in der anderen Hand näherte sich Maura dem Haus auf die leise, vorsichtige Art, wie sie sie bei Rath so oft gesehen hatte.
Als sie nur noch wenige Schritte entfernt war, hörte sie Stimmen. Obwohl sie nicht laut waren, erweckten sie ein solch beunruhigendes Gefühl in ihr, wie Maura es noch nie erlebt hatte. Ihr Instinkt riet ihr, sofort umzukehren. Doch sie ging weiter. Jetzt konnte sie hören, dass kein Umbrisch gesprochen wurde.
Dann vernahm sie, wie Gristel auf Comtung antwortete. Von dem raschen, schrillen Redeschwall konnte Maura nur das Wort
nein
verstehen.
Um sicher zu sein, was da drinnen vor sich ging, musste sie etwas sehen können. Das einzige Fenster war halb verhängt und außerdem zu hoch oben. Vielleicht konnte sie mehr sehen, wenn sie den hohen Stachelnussbaum hinaufkletterte, der dicht am Haus wuchs.
Nur ungern stopfte sie die Kräuter und die Spinnenseide wieder in ihren Gurt, aber sie brauchte die Hände zum Klettern. Dann zog sie Schuhe und Strümpfe aus. Aus Erfahrung wusste sie, dass man barfuss am besten auf Bäume klettern konnte.
Sie zog sich am niedrigsten Ast hoch und stieg von dort aus immer höher, bis sie schließlich durch den nicht verhängten Teil des Fensters blicken konnte. Was sie sah, bestätigte ihre Befürchtungen.
Ein Han-Soldat hielt Gristel die dürren Arme auf dem Rücken zusammen. An der Haltung der Schultern konnte Maura erkennen, dass die Arme schmerzhaft nach hinten gezerrt wurden. Sie konnte aber nicht sehen, wer die Fragen stellte, doch etwas weiter hinten im Zimmer entdeckte sie noch einen zweiten Soldaten.
Wie viele waren wohl da drinnen?
Die fremde Stimme stellte leise eine weitere Frage, so leise, dass Maura es kaum hören konnte. Die Worte ließen Gristel zusammenzucken. Sie sprudelte die Antwort in einem Durcheinander aus Comtung und Umbrisch hervor und schüttelte dabei wild mit dem Kopf. Immer schriller und schneller schrie sie die Worte hervor, bis Maura glaubte, es nicht mehr ertragen zu können. Schließlich verschmolzen die Worte zu einem einzigen, verzweifelten Schmerzgeheul. Gristels Kopf und Glieder zuckten, als wollten sie sich vom Körper losreißen. Maura schloss die Augen und presste die Lippen zusammen, um nicht vor Mitleid laut aufzuschreien.
Nach einem endlos langen Augenblick ging das Geheul in ein erschöpftes, angsterfülltes Wimmern über. Maura zwang sich, wieder hinzuschauen und sah, dass Gristel vornüber gesunken war. Der Han-Soldat hielt noch immer ihre Arme, ohne einen Funken Mitleid zu zeigen.
Derjenige, der das Verhör führte, begann wieder zu sprechen. Er trat jetzt in Mauras Blickfeld. Es war das erste Mal, dass sie ein Mitglied der Echtroi mit eigenen Augen sah. Und sie würde dem Allgeber danken, wenn sie in ihrem ganzen Leben keines mehr sehen müsste.
Der Magier des Todes trug eine dunkle Robe und einen wallenden schwarzen Umhang.
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