Die Prophezeiung von Umbria
Auf dem unteren konnte sie gehen, während sie sich am oberen festhielt, um das Gleichgewicht zu halten. So schnell sie konnte, kletterte Maura wieder nach unten.
Auf der Höhe des Fensters warf sie einen raschen Blick ins Innere. Niemand war zu sehen.
Als nur noch ein Ast zwischen ihr und dem Erdboden war, nahm sie vorsichtshalber ein Stückchen Spinnenseide aus dem Gurt. Dann ließ sie sich das letzte Stück zu Boden fallen und erstarrte. Sie würde sich mit dem Bindezauber wehren, sollte jemand aus dem Dunkel sie zu packen versuchen. Nichts geschah.
Hastig suchte sie nach ihren Stiefeln und Strümpfen und zog sie mit zitternden Händen an. Dann schlich sie dicht an die Hauswand gepresst bis zur Ecke. Eigentlich hatte sie erwartet, dass ein Soldat an der Haustür Wache stand. Doch als sie um die Ecke blickte, lag die Hausfront verlassen da.
Langsam schob sich Maura vorwärts. Ungehindert erreichte sie die Haustür, öffnete sie und schaute hinein.
Drinnen war alles still. Fünf Personen lagen in sich zusammengesunken über den ganzen Wohnraum verstreut. Der Duft von Traumkraut hing in der Luft.
Mauras Anspannung ließ nach.
Wieder hielt sie sich den Umhang vor Mund und Nase und betrat den Raum. Rasch sprach sie über jeden Han den Bindezauber in der Hoffnung, dadurch ein wenig Zeit zu gewinnen, falls sie aufwachen sollten, bevor sie ihre Aufgabe erledigt hatte.
Dann schaute sie nach Gristel, die auf dem Boden lag, neben dem Soldaten, der ihre Arme gehalten hatte. Wenigstens litt die arme Frau jetzt keine Schmerzen mehr. Als sie die schlaffe Gestalt der Frau betrachtete, wurde Maura bewusst, dass sie sich bis jetzt gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie sie sie aus dem Haus schaffen wollte. “Ich muss sie wohl herausziehen”, murmelte Maura vor sich hin.
Wenn sie nur nicht all ihre Bärenessenz aufgebraucht hätte! Und wie sollte sie sich Mund und Nase zuhalten, wenn sie beide Hände zum Ziehen brauchte? Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als lange genug den Atem anzuhalten.
Entschlossen beugte sie sich vor, packte Gristel unter den Armen und zog sie in Richtung Tür. Glücklicherweise war es nicht weit, denn die dürre Person war schwerer, als Maura gedacht hatte.
Fast wäre sie über den Soldaten, der neben der Tür lag, gestolpert, doch irgendwie schaffte sie es, Gristel über ihn hinwegzuhieven. Rückwärts gehend zerrte Maura ihre Last mit einem letzten Ruck ins Freie.
Da erhob sich urplötzlich ein hoher, drohender Schatten vor ihr. Im schwach flackernden Licht, das durch die Tür fiel, blitzte eine Klinge auf.
Maura wollte einen Angstschrei ausstoßen, doch dann packte sie trotzige Wut.
Mit all ihrer Kraft zog sie Gristel hoch und stieß sie gegen den Angreifer. Der gab einen überraschten Laut von sich, als der leblose Körper schwer gegen ihn fiel.
Diesen kurzen Moment nutzte Maura. Sie rannte um die Ecke, während sie verzweifelt die Taschen des Schultergurts durchwühlte. Bitte, lass es mich finden! Das kleinste Stückchen würde schon genügen.
Als sie hinter der Hausecke war, ließ sie sich sofort zu Boden fallen und lauschte auf die Schritte ihres Verfolgers. Er folgte ihr nicht ganz so schnell, wie sie gedacht hatte. Das gab ihr etwas Zeit, die Taschen zu durchwühlen und die Beschwörungsformel zu sprechen.
Dann hörte sie ihn kommen. Mit Daumen und Zeigefinger die kostbaren Fäden der Spinnenseide haltend, warf sie sich nach vorne und umklammerte seine Knöchel. Der Dolch zischte über ihren Kopf hinweg, als ihr Gegner vergebens versuchte, das Gleichgewicht zu halten.
Atemlos sprach Maura die letzten Worte des Zaubers, während sie die Spinnenfäden an seine Kleidung heftete.
Während er dumpf auf die Erde aufschlug, begann der Mann entsetzlich zu fluchen.
Maura erkannte die Stimme.
“Rath?” Sie sprang auf. “Bist du das?”
“Wen hast du denn erwartet? Den Obersten Magier der Echtroi?”
Die Anspannung war zu groß gewesen. Jetzt konnte Maura nicht anders – sie brach in wildes Gelächter aus. “Nicht den Obersten, aber vielleicht einen seiner Diener, du Schuft”, prustete sie und gab Rath einen liebevollen Klaps auf den Kopf. “Was machst du hier? Du hast Glück gehabt, dass ich nichts Schlimmeres mit dir angestellt habe.”
Sein Haar fühlte sich so gut an, der Klang seiner Stimme war das Schönste, was ihre Ohren je vernommen hatten, selbst wenn er nur Flüche ausspuckte. Sie hatten sich erst heute Morgen getrennt, doch es schien ihr bereits
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