Die Prophezeiung von Umbria
dem Jungen den Fuß auf den Nacken. “Pass auf, wem du hier Befehle erteilen willst, Kleiner, oder ich schneide dir das nächste Mal mehr ab als nur deinen hübschen Haarschopf.”
Die Augen des Jungen weiteten sich vor Schreck. Ob wegen des Fußes, der ihm den Hals zu brechen drohte, oder wegen der Haare, konnte Rath nicht sagen.
Zufrieden ging er zur Tür. Doch etwas drängte ihn, noch eine Drohung auszustoßen gegen diesen arroganten Kerl und das ganze Imperium, dessen williges Werkzeug er war.
“Reg dich nicht auf wegen deiner Haare. Du wirst sie sowieso nicht mehr brauchen, wenn der Wartende König dich und deinesgleichen ins Meer treibt.” Eine leerere Drohung hatte Rath in seinem ganzen Leben noch nicht ausgestoßen. Doch was für ein wunderbares Gefühl verspürte er bei dieser Lüge!
Voller Zufriedenheit sah er, wie ein Funken Furcht in den Augen des Han aufflackerte. Das allein war es schon wert, ihn am Leben gelassen zu haben.
“So hast du also schon vom Wartenden König gehört? Nun, er verliert langsam die Geduld und will nicht länger warten. Und wenn er erwacht, glaub es mir, dann werden die Han erzittern.”
Einen wunderbaren Augenblick lang war Rath, als würde er an Größe gewinnen. Alle Müdigkeit war wie fortgeblasen, und er fühlte sich stark. Seine Sinne schärften sich und etwas regte sich in ihm zu neuem Leben.
Doch so schnell, wie sie gekommen war, verließ ihn diese Kraft wieder und ließ ihn kleiner, schwächer und gewöhnlicher zurück als je zuvor. Er wandte sich ab und hoffte, dass der junge Han den Wechsel nicht bemerkt hatte. Dann schritt er in die Nacht hinaus und stieß den typischen Pfiff des Weidenpiepers aus.
Maura kam sofort herbeigelaufen, als sie den Pfiff hörte. Der freundliche Nachbar, welcher Exilda beerdigt hatte, folgte ihr auf den Fersen.
Auf ihrer Suche nach Gristel war sie fast in ihn hineingerannt. Glücklicherweise hatte sie seine Stimme erkannt, bevor sie ihn mit einem Bindezauber außer Gefecht setzen konnte.
Sie pfiff jetzt ebenfalls und nahm dann den Mann bei der Hand. “Kommt, das ist ein Freund von mir. Ich hoffe, er hatte mehr Erfolg bei der Suche als ich.”
Wieder erklang der Pfiff. Schritte näherten sich.
“Rath?”
Ein großer, seltsam geformter Schatten löste sich aus dem Dunkel.
“Ich habe sie”, flüsterte Rath. “So ein raffiniertes altes Huhn!” Rasch erklärte er, wo Gristel sich versteckt hatte.
Maura konnte nicht umhin, die Geistesgegenwart der Frau zu bewundern.
“Ich habe jemanden mitgebracht, der uns helfen kann.” Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie den Namen des Mannes gar nicht kannte.
“Boyd, Mistress”, sagte der Mann. “Boyd Tanner. Mein Laden ist da hinten. Ihr könnt Gristel gerne zu mir bringen. Ich hörte Schreie in ihrem Haus, die mir die Haare zu Berge stehen ließen! Als dann alles still war, wollte ich nachsehen, ob ich helfen kann.”
“Danke für Eure Hilfe, guter Mann”, erwiderte Maura. “Bitte, zeigt uns den Weg.”
“Hier ist es.” Der Färber stieß die Tür seines Hauses weit auf. “Jetzt noch die Treppe hinauf.”
Ein durchdringender Gestank nach Fellen, Rauch und Tierfett stieg Maura in die Nase.
“Ich habe einen kleinen Raum, in dem ich manchmal Leute verstecke, die Ärger mit den Han haben.” Er nahm einen Kerzenstummel von einem Wandleuchter gleich neben der Tür. “Der Geruch hier bringt ihre verfluchten Hunde ganz durcheinander.”
Als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, schlüpfte er an Maura vorbei und ging auf eine, wie es Maura schien, leere Wand zu. Er drückte mit dem Finger auf ein Astloch in einem der Bretter. Es ertönte ein dumpfes Klicken, dann glitt ein Teil der Wand nach innen.
Der Färber schlüpfte durch die Öffnung.
Maura forderte Rath auf, als Nächster hineinzugehen. “Ich werde hinter uns zumachen.”
Nachdem sie die Tür geschlossen und den raffiniert konstruierten Riegel wieder über das Astloch gelegt hatte, folgte sie den anderen hinter einen schweren dunklen Vorhang. Dort befand sich ein winziger fensterloser Raum mit einer Strohmatratze auf dem nackten Boden. Rath ließ Gristel auf das Lager gleiten.
Langsam kam die Frau wieder zu sich.
“Wo bin ich?”, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen. Sie kauerte sich auf der Matratze zusammen und streckte abwehrend die Hände aus. “Wo sind
sie?
Wer seid Ihr?”
“Still”, sagte Maura, die sich neben sie kniete. “Wir wollen Euch nichts Böses. Ihr seid an einem sicheren Ort. Habt Ihr
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