Die Prophezeiungen von Celestine
allein vor dieser Entscheidung stehen«, fuhr er fort. »Genaugenommen sind Sie als einfaches Individuum gar nicht in der Lage, Ihren Status in dieser Angelegenheit selbst zu bestimmen. Dies ist das Vorrecht der Kleriker, ihre Aufgabe ist es, die Schriften zu deuten und über jeden Ihrer Schritte zu richten, darüber zu urteilen, ob er im Einklang mit Gott geschieht oder ob Sie sich vom Satan haben täuschen lassen. Nur wenn Sie den Anweisungen der Kleriker folgen, können Sie auf ein sorgenfreies Leben nach dem Tod hoffen.
Doch wehe, es gelingt Ihnen nicht, dem schmalen Pfad ihrer Vorschriften zu folgen, dann, nun..., dann folgen eben Exkommunizierung und ewige
Verdammnis.«
Dobson blickte mich begeistert an. »Das Manuskript spricht davon, wie wichtig es sei zu verstehen, daß jeder Aspekt der mittelalterlichen Welt durch die Begrifflichkeiten des Überirdischen bestimmt wurde.
Jede Erscheinung des Lebens - vom zufälligen Gewittersturm oder Erdbeben bis hin zur guten Ernte oder dem Tod einer Geliebten - wurde durch den Willen Gottes oder die Böswilligkeit des Teufels definiert. Es existierte kein Konzept über die wahre Natur von Phänomenen wie Wetter oder geologischen Kräften, von Gartenbaukunst oder Krankheit. Das kam alles erst viel später. Im Augenblick jedoch schenken Sie nur den Klerikern Glauben; Ihre Welt wird einzig durch das Vorhandensein einer spirituellen Realität bestimmt.«
Er hielt inne und sah mich an. »Sind Sie dort angekommen?«
»Ja, ich habe diese Realität sogar direkt vor Augen«
»Gut, dann stellen Sie sich vor, wie sie langsam zerbröckelt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Weltsicht des Mittelalters, die auch die Ihre ist, beginnt sich im 14. und 15. Jahrhundert aufzulösen. Zunächst fallen Ihnen bestimmte Unrecht-mäßigkeiten im Verhalten der Kleriker selbst auf; sie verletzen heimlich das Keuschheitsgelübde, um nur ein Beispiel zu nennen, akzeptieren Bestechungsgel-der, wenn Angehörige der Regierung die Gebote der Bibe l verletzen.
Durch derartiges Fehlverhalten werden Sie natürlich alarmiert, denn in Ihren Augen sind die Vertreter der Kirche die einzige Verbindung zwischen Ihnen und Gott. Vergessen Sie nicht, diese Leute sind die einzigen Deuter der Schriften, die Schiedsrichter Ihrer Erlösung.
Und mit einem Mal stehen Sie inmitten einer Rebellion. Eine von Martin Luther geführte Gruppe verlangt die vollkommene Trennung von der päpst-lichen Kirche. Sie behauptet, die Kleriker seien kor-rupt, und verlangt nach dem Ende der Herrschaft der Kirche über das Gedankengut der Menschen. Neue Kirchen werden auf der Grundlage einer Idee
gegründet, die besagt, daß jeder Bürger persönlichen Zugang zu den Schriften haben soll und sie, ohne Mittelsmänner, für sich interpretieren darf.
Während Sie diesem Treiben fassungslos zu-
schauen, glückt die Rebellion. Die Kleriker verlieren an Einfluß. Seit Jahrhunderten definierten diese Leute die Realität, und nun verlieren sie vor jedermanns Augen ihre Glaubwürdigkeit. Konsequenterweise wird dadurch das gesamte Weltbild in Frage gestellt.
Der eindeutige Konsens, was die Natur der Dinge und des Universums, ja den Grund des Daseins der menschlichen Rasse auf diesem Planeten angeht, bricht mit der Diskreditierung der Kleriker zusammen und sorgt dafür, daß Sie und der Rest der westlichen Welt sich mit einem Mal in einer hochprekären Situation befinden.
Denn selbstverständlich haben Sie sich daran ge-wöhnt, eine Autorität für die Realität zu akzeptieren, und ohne diese Zuwendung von außen fühlen Sie sich jetzt verloren und verwirrt. Wenn Kleriker mit ihrer Beschreibung der Realität und ihrer Begründung für das Vorhandensein der menschlichen Existenz
unrecht hatten, so fragen Sie sich, wer hat dann recht?«
Einen Moment hielt er inne. »Erkennen Sie die Wirkung dieses Zusammenbruches auf die Menschen unserer heutigen Zeit?«
»Es mußte etwas tief Beunruhigendes gehabt haben«, sagte ich.
»Genaugenommen hat es sich um einen enormen
Aufruhr gehandelt. Allerorten stellte man die alte Weltsicht in Frage. Ab 1600 hatten Astronomen den unwiderlegbaren Beweis dafür erbracht, daß weder Sonne noch Sterne sich um die Erde drehten, wie die Kirche vorgegeben hatte. Mit größter Gewißheit handelte es sich bei der Erde jetzt nur noch um einen kleinen Planeten, der eine bedeutungslose Sonne in einer Galaxie umkreiste, welche wiederum Milliarden solcher Sterne beherbergte.«
Er lehnte sich zu mir herüber. »Diese
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