Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Gleichgewicht nicht. Sie zerrt ihren Rucksack hoch und hängt ihn über die Schulter. Dann wendet sie sich ab und geht steifbeinig davon. Nach ein paar Sekunden folgt er ihr, doch er hat zu lange gewartet. Als er um die Kurve kommt, hat sie angefangen zu laufen und ist fast bei ihrem Wagen. Bevor er sie einholen kann, ist sie hineingesprungen, startet den Motor und schießt mit kreischenden Reifen auf die Straße.
Er streckt die Hand aus, um sie zu stoppen, aber sie wendet scharf, gibt Gas und ist nach wenigen Sekunden verschwunden. Er steht allein in der Nacht. Der Geruch von Auspuffgas und verbranntem Gummi hängt in der Luft wie der Abdruck einer Hand.
Erdbeeren und Marshmallows
Am Ende nehmen sie ein Taxi zu ihr nach Hause. Wie sich herausstellt, wohnt sie zwar nicht eine Million Meilen weit von ihm entfernt, aber doch ganz anders: in einer blitzblanken, sauberen, neu gebauten Maisonettewohnung am Ortsrand von Stroud. Sie hat einen zugewucherten Garten, für den sie, wie sie AJ erklärt, keine Zeit hat, einen Blick auf die Hügellandschaft auf der einen und einen Blick auf die Lichter der Stadt auf der anderen Seite. Die Möbel sind nicht aus Treibholz; genau genommen hat sie überhaupt keinen erkennbaren Stil. Alles ist sauber und geradlinig und keineswegs so perfekt und erwachsen, wie er es sich ausgemalt hat.
Sie macht etwas zu trinken – Wodka mit Orangensaft –, aber die Drinks stehen unberührt auf dem gläsernen Couchtisch, während er und Melanie auf dem Sofa dazu übergehen, sich wilder zu küssen. AJ verliert sich darin, und in seinem Kopf dreht sich alles wie verrückt. Sie fühlt sich weich und glatt und seidig an und riecht nach all den Dingen, die AJ sich vorgestellt hat: nach Erdbeeren und Zitronen und Marshmallows. Und sie holt die verlorene Zeit nach, sie verschlingt ihn, hält ihn bei den Ohren und zieht seinen Mund hart an ihren. Er streicht mit einem Finger über ihre Wirbelsäule und fühlt den weichen Buckel des BH -Verschlusses unter der Bluse.
»Mmmmmmm«, murmelt sie und leistet keinen Widerstand. »Schön …«
»Melanie …« Er muss sich von ihr lösen. Er stellt beide Füße auf den Boden, stützt die Ellenbogen auf die Knie und lässt den Kopf hängen. Seine Gedanken überschlagen sich.
Nach einer kurzen Pause richtet sie sich auf und streicht das Haar zurück. »AJ? Was ist?«
»Es ist lange her. Das ist alles.«
»Na ja …« Sie kichert kurz und nervös. »Das ist okay, oder?«
»Nein, ich …«
»O nein …« Sie schlägt die Hände vor den Mund. »Du bist schwul.«
»Ich bin nicht schwul.«
»Du bist impotent.«
»Nein! Nein … nichts von all dem. Ich bin nur …« Er schluckt. Reibt sich das Gesicht und bemüht sich um Nüchternheit. »Ich bin …« Er dreht sich um und sieht sie an. Ihr Make-up ist verwischt. »Gott, du bist so verdammt begehrenswert.«
»Ja?«
»Gott, ja.«
»Aber …?«
Er seufzt. »Flipp nicht aus, wenn ich es dir sage. Manche Frauen törnt es ab.«
»Okay«, sagt sie vorsichtig. »Nur zu. HIV . Herpes.«
»Nein. Schlimmer. Ich bin altmodisch.«
»Altmodisch? Inwiefern? Schrullig oder sensibel?«
»Nicht schrullig.«
»Dann sensibel? Und das törnt Frauen ab?«
»Kann ich es dir erklären?«
»Entschuldige. Ich unterbreche dich nicht mehr.«
»Okay. Vor drei Jahren war ich mit einem Mädchen zusammen, mit einer Frau …«
»Und du liebst sie noch.«
»Lässt du mich jetzt ausreden?«
»Entschuldigung.«
»Okay. Die Antwort ist nein. Ich liebe sie eindeutig nicht, und ich habe sie auch damals nicht geliebt. Ich weiß nicht mal mehr, wie sie hieß. Aber das war damals nichts Besonderes bei mir.«
»Cool.«
»Ja. Cool … aber auch irgendwie erbärmlich und hohl. Da bin ich also im Bett mit diesem namenlosen, gesichtslosen Mädchen und weiß, nach dem Sex werde ich ihr wahrscheinlich das Taxi nach Hause spendieren und danach ihren Anrufen aus dem Weg gehen, denn das war damals meine Art. Freundinnen kamen und gingen. Es ist Nachmittag – du weißt, wir Schichtarbeiter müssen es nehmen, wie es kommt –, und meine Mum ist draußen im Garten.«
»Du wohnst bei deiner Mutter?«
»Ja … ich meine, nein. Nicht so, wie sich das anhört. Es war gut, wie es war. Jedenfalls, ich bin im Schlafzimmer, und Mum ist draußen und …« Er spricht nicht weiter. Er kriegt diesen Teil immer noch nicht richtig hin, wenn er jemandem davon erzählt. Es klingt nie so geschmeidig, wie er es möchte. »Und Mum bekam einen Krampfanfall. Das kam
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