Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
weiterfliegen.
Sie faltet das Plastik wieder zurück und legt die Steine darauf.
Es tut mir so leid, Misty. Leid für dich, leid für deine Mum. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren und nichts zu haben, das man in ein Grab legen kann, aber einstweilen kann ich es nicht ändern. Ich bin noch nicht an der Reihe mit meinem Absturz.
Noch nicht. Vielleicht niemals.
Gelb
Melanie und AJ sind in eine Sackgasse geraten. So jung ihre Beziehung auch ist, sie begegnen einander doch so wachsam und argwöhnisch wie geschiedene Eheleute. Beim Frühstück sitzen sie sich hölzern gegenüber und sprechen kaum ein Wort. Er ist überrascht und entsetzt über die Art, wie sie gestern Nacht dichtgemacht hat, und er nimmt an, dass sie sich inzwischen schämt. Er ist schon vielen Frauen begegnet, die von unten in eine Machtposition aufgestiegen sind, und nicht wenige fanden es unglaublich schwierig, dort zu bleiben. Als wären sie erstaunt, überhaupt so weit gekommen zu sein, sind sie unerbittlicher, als es manchmal nötig wäre.
Er räumt sein Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine und geht noch einmal in den Garten, um ihn bei Tageslicht in Augenschein zu nehmen. Er weiß nicht, wonach er sucht; also trödelt er ein bisschen herum, macht ein wichtiges Gesicht und geht schließlich zurück ins Haus. Immer wieder erwischt er sie dabei, dass sie ihn beobachtet, und wenn er glaubt, sie merkt es nicht, studiert er sie ebenfalls und sucht nach einem Anzeichen dafür, dass sie ihm gleich sagen wird, sie wolle vorerst nicht weitermachen. Sie wolle, dass Ruhe einkehrt. Es würde ihn nicht wundern. Sie wird es tun, weil sie sich schämt – der schlimmste aller möglichen Gründe, aber sie hat ihren Stolz.
Als sie zur Arbeit kommen, ist AJ schon abgespannt. Er ist erschöpft, und die Erinnerung an das, was immer da im Garten war, lässt ihm keine Ruhe. Sie blitzt immer wieder auf, wenn er nur die Augen schließt: ein Gesicht, das mit etwas bedeckt ist – mit einer Strumpfmaske vielleicht. Die absolut reglose Miene – so unbewegt, dass er immer noch nicht glauben kann, es könnte wirklich ein Mensch gewesen sein – ist das Schlimmste dabei. Das Bild hört nicht auf, ihn zu bedrängen, und irgendwann gibt er auf und lässt sich von ihm treiben. Er ist nicht überrascht, als er sich vor Monster Mothers Tür wiederfindet.
Monster Mother sitzt am Fenster wie immer. Sie hält ihren Stumpf hoch über den Kopf. Dafür gibt es anscheinend keinen speziellen Grund. Sie wird weder müde, noch erwähnt sie es, als AJ hereinkommt. Sie lächelt freundlich, erhebt sich halb, um ihn mit einem kleinen Knicks zu begrüßen, und zwirbelt den Saum ihres fließenden gelben Spitzengewands mit der unversehrten Hand. Den Stumpf hält sie weiter hoch.
»Gabriella.«
»Hallo, liebster AJ. Die Welt ist heute extrem gelb.«
»Gelb wie in …?«
»Wie in sonnig.« Sie setzt sich und strahlt. Der Arm bleibt in der Luft und stellt fröhlich einen dicken Busch von rötlichem Haar in ihrer Achsel zur Schau. »Die Welt ist glücklich.«
»Glücklich, weil …?«
»Weil es fort ist. Es wird uns jetzt in Ruhe lassen. Wir sind in Sicherheit. Ohhhh, AJ.« Sie richtet den Blick ihrer erstaunlichen Augen auf ihn. Es sind Augen, die die Welt beleuchten könnten. »Das ist alles nur deinetwegen. Du bist so reizend. Du bist mir das liebste von allen meinen Kindern. Ein aufrechter Mensch – aufrechter als alle anderen.«
AJ lächelt matt. Isaac Handel hat die Klinik verlassen, und jetzt ist Monster Mother glücklich. Ein Zufall, der so groß ist, dass er ihn nicht ignorieren kann. »Darf ich mich setzen?«
»Natürlich, mein reizender Sohn.« Monster Mother hat den Arm immer noch nicht gesenkt. »Setz dich, setz dich. Möchtest du Tee? Ein bisschen Kuchen? Der Erdbeerkuchen ist gut. «
Monster Mother kann in ihrem Zimmer weder Tee kochen noch Kuchen backen, aber AJ senkt höflich den Kopf. »Schon okay, Gabriella. Ich habe eben gegessen, danke.« Er setzt sich und holt tief Luft. »Gabriella? Glauben Sie, Isaac weiß etwas über ›Maude‹?«
Sofort ändert sich Monster Mothers Laune. Eine Wolke huscht über ihr Gesicht, und sie lässt den Stumpf sinken.
»Gabriella?«
Sie bewegt die Zunge im Mund herum, als habe sie einen inneren Streit mit sich selbst auszufechten. Ihre Augen huschen flackernd hin und her.
»Gabriella? Ich habe Sie gefragt, ob Sie …«
»Ich habe ihn geboren – wie soll ich das vergessen? Ich vergesse keinen von euch. Ich weine
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