Die Puppenspieler
grauhaarigen Mann dazu zu bringen, seine Lippen in einem grimmigen Lächeln zu verziehen. »Du hast Mut, Gorgio.«
Noch immer sagten die anderen nichts. Richard spürte in diesem Moment alles sehr deutlich: die herbstliche Sonne, den Staub der Landstraße, den Duft der Getreidefelder und die prüfenden Blicke der Zigeuner.
Mit einem Mal rührte sich in ihren geschlossenen Reihen etwas. Jemand drängte sich vor, sehr heftig, und Murren begleitete diese Aufdringlichkeit. Eine helle Stimme rief: »Es ist in Ordnung, Woiwode. Er ist mein Bruder, der mir das Leben gerettet hat.«
Die Gruppe öffnete sich, und vor Richard stand ein junges Mädchen, zwar zierlich, doch mit den Formen und dem Wuchs einer Frau. Ihr schwarzes, wirres Haar war immer noch kurz geschnitten, doch das herzförmige Gesicht mit den breiten Wangenknochen und dem spitz zulaufenden, energischen Kinn hatte seine Magerkeit verloren. Nur ihre Augen waren gleich geblieben, von fast unerträglich strahlendem Grün. Richards Pulsschlag beschleunigte sich. Er hatte nicht damit gerechnet, sie noch einmal wiederzusehen.
»Saviya!«
Sie wandte sich an den Anführer und begann in einem Mischmasch aus Volgare und einer unverständlichen Sprache auf ihn einzureden. Nach und nach veränderte sich die Atmosphäre, die Zigeuner begannen miteinander zu flüstern, bis der Woiwode mit erhobener Hand Ruhe gebot.
Er ging auf Richard zu. »Sei willkommen«, sagte er einfach. »Unser Blut fließt in dir, und damit bist du unser Bruder. Wir nehmen deine Hilfe gerne an.«
»Nun«, entgegnete Richard erleichtert, »dann laßt uns versuchen, euren Wagen mit Hilfe meines Pferdes wieder aufzurichten.«
Ein aufgestörtes Bienennest war nichts gegen die sprühende Lebhaftigkeit des Stammes in diesem Augenblick. Es schien, daß jeder einzelne der Zigeuner, Mann oder Frau, ihn umarmen und als Stammesmitglied begrüßen wollte. Richard dachte später, daß er in seinem ganzen Leben noch nicht so oft umarmt worden war wie an diesem Tag. Er versuchte, Saviya im Auge zu behalten, doch sie war so schnell wieder verschwunden, wie sie erschienen war. Eine Stunde später, als der Wagen endlich aufgerichtet und das Maultier, das ihn gezogen hatte, wieder angespannt war, fand er sie endlich. Sie stand gegen sein Pferd gelehnt und fütterte es mit einem Apfel.
»Es ist nicht das, was du damals hattest, Riccardo«, sagte Saviya und strich dem Tier über die Mähne. Richard war sonst nie um Worte verlegen, doch diesmal fiel ihm nichts ein, was er antworten konnte. Er sah sie an. Sie trug, im Gegensatz zu allen anderen Zigeunerinnen, Hosen und ein enganliegendes Hemd, wie an dem Tag, als er sie im Schnee gefunden hatte.
»Ich habe dich in Bozen gesucht, Saviya«, entgegnete er schließlich, »weil ich mir Sorgen um dich machte und dir sagen wollte, daß es mir leid tat …«
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite. »Dann hattest du Glück, daß du mich nicht gefunden hast, denn an dem Tag hätte ich dich gut und gerne umbringen können. Aber ich wußte, daß ich dich wiederfinden würde, deswegen habe ich dir mein Messer und mein Haar gelassen.« Richard lächelte. Sie hatte immer noch etwas von einem Kind an sich.
»Und jetzt? Möchtest du mich jetzt auch noch umbringen?«
Saviya schüttelte den Kopf. Sie umarmte ihn schnell, zu kurz, als daß er darauf hätte reagieren können. »Ich habe dich schrecklich vermißt, Riccardo. ›Leicht ist der Abstieg zum Avernus‹«, fügte sie spitzbübisch hinzu, »›doch deine Schritte zurückzuverfolgen und aufzusteigen zurück zum Licht, das ist Qual, das ist Mühe.‹ Du hast mir nie das Ende der Geschichte erzählt.«
»Du hast mir nie erzählt, wie alt du bist.«
»Um viele Monde älter, als ich damals war«, antwortete sie neckisch, »und wie alt bist du, Riccardo?«
Ein kleines Mädchen rannte herbei und rief Saviya zu, sie solle zum Wagen kommen, da die Fahrt weitergehe. »Wohin zieht ihr?« fragte Richard.
»Nach Florenz, wohin sonst auf diesem Weg«, quäkte die Kleine und fügte etwas Unverständliches hinzu. Sie schnitt Saviya eine Grimasse, duckte sich und eilte davon.
»Aber dann kann ich euch begleiten. Das ist auch mein Ziel.«
Saviya warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Dir würde es nichts ausmachen, mit dreckigen Zigeunern in der Stadt einzutreffen?«
Er hatte vergessen, wie geübt sie darin war, mit Worten zu beleidigen. »Nein«, sagte er kurz, nahm ihr die Zügel aus der Hand und machte sich zu Fuß mit ihr auf den
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