Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Sohn, und Sie haben sich nie die Mühe gemacht, ihn zu kontaktieren oder ihm zu helfen, als er durch harte Zeiten ging! Predigen Sie mir hier also nichts über moralistische Existenz. Er kennt Sie nicht einmal und riskiert trotzdem sein Leben, um Sie zu retten. Würden Sie für ihn das Gleiche tun? Würden Sie Ihr Leben für einen Fremden auf Spiel setzen?«
Stephen saß da, betroffen über Ziveras Worte. Sein Zorn auf diesen Mann wurde nur noch übertroffen von dem Zorn, den er auf sich selbst empfand, denn so gerne er es auch geleugnet hätte, Julians Worte waren die Wahrheit. »Und Sie werden in der Medizin diesen großen Sprung nach vorn anführen? Diese Ergreifung Gottes, um ihn in eine Arzneimittelflasche zu stecken und gegen Gebühr tröpfchenweise auszugießen?«
Julian starrte Stephen an; sein Lächeln beantwortete die Frage.
»Ohne Rücksicht auf die Verluste von Menschenleben?«
»Die Menschheit hat noch nie eine große Entdeckung gemacht, ohne dass es dabei Opfer gegeben hätte«, erwiderte Julian. »Wie bei einem Krieg, der Opfer fordert, werden Menschenleben hingegeben, damit andere weiterleben können. Oder um einen obskuren liberalen Denker zu zitieren: ›Das Wohl der Vielen wiegt mehr als das Wohl der Wenigen oder des Einzelnen.‹«
»Das Wohl der Reichen wiegt mehr als das Wohl der Armen, nicht wahr? Sie können sich noch so rauszureden versuchen, Sie bleiben ein verdammte Mistkerl.«
Julian starrte Stephen an; dann wandte er sich an einen der Dienstboten, der an der Tür stand, und nickte ihm zu. Binnen Sekunden postierten sich zwei Mann links und rechts von Stephen.
»Man wird Sie zu Ihrem Zimmer bringen.« Julian erhob sich, biss die Zähne zusammen und presste wieder seine Finger gegen die Schläfen. »Buona notte.«
Als Stephen zu seinem Zimmer geführt wurde, hallten Ziveras Worte in ihm nach: »Das Wohl der Vielen wiegt mehr als das Wohl der Wenigen oder des Einzelnen.«
Er war ein Mann, der seine Spuren verwischte und sich in jede Richtung absicherte. Stephen hatte durch ihre Unterhaltung viel herausgefunden, zog aber nur zwei Schlussfolgerungen: Julians Geisteszustand grenzte an Wahnsinn … und er hatte nicht die Absicht, diesen Mann am Leben zu lassen.
Julian zog sich in seine Bibliothek zurück, setzte sich mit einem Glas Cognac an seinen Schreibtisch und versuchte, seine Nerven zu beruhigen. In seinem Schädel hämmerte es schlimmer als sonst. Die Medikamente halfen nicht mehr. Er brauchte seine ganze Kraft, um den Schmerz zu ertragen, und musste die Augen schließen, um seinen Geist von der Wut zu befreien.
Er ging hinunter in den Weinkeller und nahm eine Flasche Portwein vom Regal, die er bei seiner letzten Reise nach Portugal erworben hatte. Er hoffte, dass der Port seine blank liegenden Nerven beruhigte. Er öffnete die Flasche und schenkte sich ein Glas ein, ließ den Tiffany-Schwenker kreisen, blickte auf den goldbraunen Wein und versuchte, seine Ängste zu verdrängen.
Bei einem routinemäßigen Ganzkörperscan war seine Welt aus den Fugen geraten. Er war stets der Inbegriff von Gesundheit gewesen, hatte an keiner Krankheit mehr gelitten, seit er acht Jahre alt gewesen war und ein Asthmaanfall ihn beinahe umgebracht hätte. Nach jenem Tag hatten ihm seine Atemwege nie wieder Schwierigkeiten bereitet; er hatte nie auch nur eine Erkältung oder Fieber gehabt und kannte keine Schmerzen, sah man von den Spannungskopfschmerzen ab, die ihn hin und wieder plagten. Er unterzog sich medizinischen Untersuchungen eher aus Amüsement.
Bis zu dem Tag, an dem er den Scan hatte durchführen lassen. Julian hatte die Bilder der Kernspintomografie gesehen – und den Hirntumor. Ein ungewöhnlicher Tumor, der seinen Arzt in Erstaunen versetzte, aber trotzdem ein Tumor.
Eine Operation würde tödlich enden, trotz all seines Geldes und seiner Macht.
Julian starb.
All seine Forschungen, all seine Bemühungen waren umsonst gewesen. Seine Ärzte waren keinen Schritt weitergekommen, eine Heilung zu finden. Sie sagten ihm nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb, sie sagten ihm nur, dass eine Heilung nicht möglich sei. Julians letzte Hoffnung war das Wunder im Inneren der Schatulle, die man den »Albero della Vita« nannte.
Als Dr. Robert Tanner ihm die endgültige Diagnose mitgeteilt hatte, waren sie allein in der Bibliothek gewesen, und Julian hatte nur gelächelt. Die beiden erhoben sich und gingen nach unten, in genau diesen Raum, in dem Julian sich jetzt befand. Julian wählte einen
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