Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Shiraz, stieß mit dem Arzt an und dankte ihm für seine Mühen. Tanner sprach ihm sein Mitgefühl aus. Sie wussten nicht, wie lange der Tumor schon in ihm wuchs. Vielleicht erst seit ein paar Monaten, vielleicht schon seit Jahren. Tanner verordnete eine Behandlung mit Chemotherapie und Bestrahlung, erklärte ihm aber gleich, dass es ihm lediglich ein bisschen mehr Zeit verschaffen könne, heilen könne es ihn nicht. Sie philosophierten über das Leben, über Lebensqualität, über die Hürden, die sich den Menschen in den Weg stellten und darüber, dass niemand weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt und an welchem Morgen er zum letzten Mal aufwachen wird.
Julian dankte Dr. Tanner für seine Mühe und die mitfühlenden Worte, stieß dann mit ihm auf das Leben an und begrub ihn anschließend in Gruft Nummer 789 – ein Ehrenplatz, nur drei Grabstellen neben denen seiner Frau und seines Schwiegervaters.
Julian stand da und blickte auf die Krypta, die vor so langer Zeit erbaut worden war, auf die dunkle, gespenstische Höhle voller Tod. Und der Tod schien umherzuschweben, in den Schatten zu lauern, wie ein tollwütiges Tier in den entlegenen Ecken auf sein nächstes Opfer zu warten. Die Dunkelheit und die Schatten schienen das wenige Licht aufzusaugen, das es in dem Raum gab. Gleichzeitig bekam Julian das Gefühl, als zögen sie ihn mit sich, als saugten sie ihm das Leben aus, als zerrten sie die wenige Hoffnung aus ihm heraus, die er noch besaß.
Als Julian auf die Gräber hinunterblickte – auf die Menschenleben, die er geopfert hatte, um seine Ziele zu erreichen –, wusste er ohne jeden Zweifel, welches Schicksal ihn erwartete. Er kannte die Heilige Schrift; er wusste, dass es für ihn keine ewige Belohnung geben würde.
Sein Todesurteil war gleichbedeutend mit ewiger Finsternis. Denn niemand wusste um seine Sünden besser als er selbst; keiner kannte die Spur des Todes, die er hinter sich her zog und die Genugtuung, die es ihm bereitet hatte, anderen Menschen das Leben zu nehmen.
Seine einzige Chance, seine einzige wirkliche Hoffnung lag in der goldenen Schatulle, die irgendwo tief unter den Mauern des Kremls versteckt war.
Wenn er sterben musste, würden alle seinen Zorn zu spüren bekommen, besonders Michael. Wenn Michael versagte, würde er nicht nur den Tod seines Vaters ertragen müssen, sondern auch den Tod seiner Freunde und deren Angehörigen. Jeder, den Michael St. Pierre kannte, würde Julians Zorn zu spüren bekommen.
Und Michael würde genau hier, in diesem Gewölbe, dabei zusehen, wie sie alle ihr Leben aushauchten.
34.
M ichael warf das wasserabweisende Kernmantelseil in die tosenden Fluten und beobachtete, wie der orangefarbene Ball, der am Ende befestigt war, unter Wasser und hinein in das uralte Rohr unterhalb der Wand gezogen wurde, bis er nicht mehr zu sehen war. Michael ließ das Seil von der Rolle gleiten, das ihm von der Strömung förmlich aus den Händen gerissen wurde. Das extrem feste Seil war alle drei Meter mit Markierungen versehen. Nun konzentrierte Michael sich auf diese Markierungen, obwohl das Seil ihm immer schneller aus den Händen rutschte. Fünfzehn Meter, achtzehn, zwanzig, dreißig – das Seil flimmerte ihm vor den Augen. Er konnte die Reibungshitze durch die Handschuhe hindurch spüren. Dann endlich kam es zum Stillstand, bei fünfundsiebzig Metern.
Michael blickte zu Susan und dann wieder auf das Seil, das auf der Wasseroberfläche lag und in der Strömung zitterte. Er schlang es um einen dicken Steinpfeiler und prüfte, ob es wirklich fest saß, um ganz sicherzugehen.
Die Felshöhle erstrahlte im orangefarbenen Licht der zahlreichen fluoreszierenden Leuchtstäbe, die Michael ausgelegt hatte. Der erleuchtete Raum war größer, als er angenommen hatte, über fünfzehn Meter breit. Die viereinhalb Meter hohe Decke war übersät von Kalkablagerungen, die Stalaktiten im Miniaturformat gebildet hatten und die in dem künstlichen orangefarbenen Licht wie nach unten züngelnde Flammen aussahen. Michael studierte die Kopie der Karte, die er angefertigt hatte, indem er das Original mit akribischer Genauigkeit nachgezeichnet und die Kopie anschließend zwischen wasserdichtem Plastik versiegelt hatte. Nicht nur die Höhle, in der sie jetzt standen, hatte er markiert und beschriftet, auch den Grundriss der Liberia, zu der sie hoffentlich vordringen würden.
Michael legte einen Kompass auf die Karte und berücksichtigte die Länge der Wasserleitung, die sich vor ihnen auftat.
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