Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
denken und an ihren Verlust. Peter war nicht mehr da. Ihr Leben ging weiter. Das Leben wollte gelebt werden, und jetzt hatte sie in Michael wieder einen Menschen gefunden, der ihr etwas bedeuten konnte. Das hieß nicht, dass sie Peter innerlich verließ oder ihn weniger liebte. Es war lediglich an der Zeit, mit dem Trauern aufzuhören.
Sie trocknete sich ab und schlüpfte in ein Paar Jeans und ein Sweatshirt. Sie liebte Klamotten, in denen man sich herumwälzen konnte, ein Luxus, den sie sich nur selten erlaubte. Immer zwängte sie sich in Kostüme und Kleider, Röcke und Blusen, die sie nicht nur in ihrer Bewegung einschränkten, sondern auch in ihrem Leben und ihrem Wohlbefinden.
Susan setzte sich aufs Bett und nahm die Schatulle in beide Hände.
Michaels Warnung war deutlich gewesen; sie klang ihr noch in den Ohren: »Mach die Schatulle nicht auf.« Nun schaute Susan sie an und zerbrach sich den Kopf, was da wohl drin war. Obwohl das goldene Kästchen selbst bestimmt ein Vermögen wert war – wenn nicht gar von unschätzbarem Wert –, wusste sie, dass das, was sich in der Schatulle befand, das eigentliche Objekt von Julian Ziveras Begierde sein musste. Einer Begierde, die ein Menschenleben wert war. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr, dass es Zivera nicht interessieren würde, wie viele Menschen er töten musste, um diese Begierde zu stillen.
Und die ganze Zeit hing die Versuchung in der Luft. Es war, als habe Michael sie mit seiner simplen Forderung erst recht dazu verlockt, in das Kästchen zu schauen. Was konnte einen so großen Wert haben, dass es in ein Behältnis von der Größe einer Zigarrenkiste passte? Welches Geheimnis konnte darin verborgen sein, von dem Michael nicht wollte, dass sie es erfuhr? Welches Geheimnis war das Leben eines Menschen wert?
Susan schaute auf das Schloss. Es war bloß ein Schlitz. Sie griff in ihre Reisetasche, zog eine Nagelfeile hervor und steckte sie in den Schlüsselschlitz. Sie passte perfekt. Susan konnte spüren, wie die Spitze der Feile gegen den Zylinder drückte.
Dann aber besann sie sich eines Besseren und legte die Nagelfeile aufs Bett.
Michael hatte sie angewiesen, die Schatulle nicht zu öffnen. Dennoch kreisten ihre Gedanken verbissen um das Warum und um die Frage, was darin sein mochte. Diese Frage rief nach ihr wie das unaufhörliche Läuten eines Telefons. Welches Geheimnis hatte das ganze Unternehmen in Gang gesetzt und sie und Michael auf diese Suche geschickt? Welches Geheimnis war fünfhundert Jahre lang versteckt gewesen? Ein Geheimnis, vor dem sogar Iwan der Schreckliche, einer der brutalsten Männer der Geschichte, die Welt hatte bewahren wollen, weil er es für zu gefährlich hielt.
Susan schaute auf das Schloss und fragte sich, ob die Erregung, die sie verspürte, der Grund dafür war, dass Michael tat, was er tat. Dass er sich in Gefilde vorwagte, in die man sich eigentlich nicht vorwagen sollte, indem man Schlösser öffnete, die einem versteckte Reichtümer offenbarten.
Es schien, als würde Susan jeder Sinn für Logik abhandenkommen. Alles, was sie gelernt hatte, verdrängte sie. Warnungen, die sie hätte beherzigen müssen, missachtete sie. Sie spürte, wie sie der Versuchung erlag, dem Reiz des Unbekannten, der Verlockung, das Verbotene herauszufinden.
Dann aber gewann die Vernunft wieder die Oberhand. Sie hatte die Kraft, der Versuchung zu widerstehen; sie war eine erwachsene Frau, die ihre Neugier im Zaum halten konnte.
Susan schaute immer noch auf die Schatulle, die vor Tausenden von Jahren geschaffen worden war. Könige und Königinnen hatten sie in Händen gehalten, bevor sie fünfhundert Jahre lang von der Bildfläche verschwunden war. Susan nahm sie hoch und drehte sie in den Händen, bewunderte ihre Perfektion und Schönheit, staunte über das handwerkliche Können eines Zeitalters, in dem es noch keine Präzisionsgeräte gegeben hatte.
Und so, wie wir uns einreden, dass es in Ordnung ist, schneller zu fahren, als die Geschwindigkeitsbegrenzung erlaubt, weil wir spät dran sind, so, wie wir uns einreden, dass es okay ist, sich krankzumelden, weil das Wetter so schön ist – auf die gleiche Weise traf Susan ihre Entscheidung. Die möglichen Konsequenzen werden stets bagatellisiert. Deshalb bekommen die Leute weiterhin Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens, nehmen zu, obwohl sie auf Diät sind, oder werden im Büro mit braungebrannter Haut erwischt, nachdem sie angeblich mit Grippe
Weitere Kostenlose Bücher