Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)

traten, den sie Saosis nannten. In der Offenbarung des Johannes ist die Rede davon, dass der Baum des Lebens zwölf Früchte trug, die den Völkern Heilung bringen. In der nordischen Mythologie ist dieser Baum als Yggdrasil bekannt. In China ist er ein Baum, der alle dreitausend Jahre einen Pfirsich trägt und den, der davon isst, unsterblich macht. In der arabischen Mythologie gibt es zwölf mit Juwelen besetzte Bäume, die um den Brunnen des Lebens gepflanzt sind. Und selbstverständlich berichtet das Erste Buch Moses vom Baum des Lebens, der neben dem Baum des Wissens stand, von dem Adam und Eva den Apfel nahmen, von dem sie verbotenerweise aßen. Dieser Baum vermittelte jedoch kein Wissen, sondern trug eine Frucht, die denen, die davon aßen, das ewige Leben schenkte. Nur fürchtete Gott, dass der Mensch mit diesem Geschenk nicht würde umgehen können, denn es hätte aus den Menschen Götter gemacht. Deshalb entsandte er Engel, die den Baum bewachen und die Menschen daran hindern sollten, jemals in den Besitz dieses Geschenks zu gelangen.«
    »Engel? Du willst mich wohl veräppeln.« Busch sprang auf und sah auf Michael hinunter. »Du hörst dir den Quatsch hoffentlich nicht ernsthaft an, oder? Ich kenne dich, und ich habe ein paar seltsame Dinge erlebt, aber ich bin mir nicht sicher, dass ich den Unsinn glauben kann.«
    »Für mich spielt es keine Rolle, was du glaubst«, erwiderte Michael. »Hier geht es darum, was Julian glaubt, der Mann, der meinen Vater, Susan und Genevieve in der Gewalt hat. Ich muss alles über diese Schatulle wissen, egal, ob es Dichtung oder Wahrheit ist. Setz dich also und halt die Klappe.«
    Mürrisch nahm Busch Platz.
    Simon tat so, als hätte er den Wortwechsel gar nicht mitbekommen, und fuhr fort: »Die Engel erhielten den Auftrag, den Garten Eden und das Geheimnis um das ewige Leben zu bewachen, doch wurden sie dessen müde und rebellierten. Sie legten das Geheimnis auf den Boden einer goldenen Schatulle. Darum herum legten sie den Tod, um die Menschen hinters Licht zu führen. Die Schatulle haben die Engel versteckt. Die Legende, die sie umrankte, wurde zu einer Warnung: Wer die Geheimnisse Gottes zu ergründen versucht, wird dabei umkommen. Über viele Jahrhunderte hinweg war die Schatulle im Besitz von Priestern und Königen, die ihre Gefährlichkeit kannten. Doch einige konnten der Versuchung nicht widerstehen und mussten erleben, wie ihre Königreiche vernichtet wurden. Eroberer und fremde Armeen, Kaiser und Diebe machten sich auf die Suche nach der goldenen Schatulle.
    Endlich fand sie in Byzanz ihre Ruhestätte, wo nur der jeweils herrschende König von ihrer Existenz wusste – Männer, die klug genug waren, die Todeswarnungen zu beachten. Männer, die wussten, welche Folgen maßlose Gier haben kann. Nach dem Untergang dieses letzten Reiches der Antike hielt man es für angemessen, die Schatulle an einen Ort zu bringen, der so weit wie nur möglich von jeder Zivilisation entfernt ist. Sie wurde mit der byzantinischen Liberia nach Russland gebracht, wo sie unter der Erde begraben wurde, verschollen für die Geschichte, verwandelt in Legende und Mythos.«
    Michael beugte sich vor. »Ich muss es wissen, Simon. Keine Mythen, keine Gutenachtgeschichten. Ich muss wissen, was genau in dieser Schatulle ist.«
    Simon ließ sich einen Moment Zeit und sammelte sich, als müsse er sich konzentrieren, um eine schreckliche Wahrheit zu offenbaren. »Wer die Schatulle öffnet, den erwartet das ewige Leben … allerdings zahlt er dafür den ultimativen Preis. Es ist umhüllt vom Bösesten des Bösen. Dieses Böse darf niemals entweichen, sonst bedeutet es den Tod. Wer die Warnung nicht beachtete und die Schatulle öffnete, musste mit ansehen, wie alle um ihn herum starben, wie ganze Königreiche von Pest und Seuchen heimgesucht wurden, von Krieg und Dürre. Ihre Welt wurde zerstört, ihre Imperien vernichtet. Es ist ein Übel, das die Welt nicht mehr heimgesucht hat, seit Iwan der Schreckliche der Versuchung widerstand, was er nur aufgrund seines Glaubens und seiner Furcht vermochte.« Simon blickte Michael an. »Diese Schatulle enthält niemals endende Finsternis.«
    »Wenn die Schatulle geöffnet ist«, fragte Michael zögerlich, denn er hatte Angst vor der Antwort, »kann man die Gefahr dann noch in Schach halten? Kann man sie auf ein bestimmtes Gebiet beschränken?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Also bringt sie die Apokalypse?«, fragte Busch mit herablassendem Beiklang. »Irgendein