Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
selbstverständlich hingenommen und niemals ganz erfasst, wie sehr er ihn brauchte.
Alec war vor ein paar Jahren gestorben, ganz plötzlich, ausgelöst durch Diabetes-Komplikationen. Seine Frau starb kurz darauf an gebrochenem Herzen. Michael wünschte sich, seinen Vater nur eine Woche länger gehabt zu haben – oder auch nur einen einzigen Tag –, um ihm all die Fragen zu stellen, die er nie gestellt hatte in dem Glauben, irgendwann später noch Zeit dafür zu haben. Er hatte immer geglaubt, es würde ein Morgen geben; er war immer mit der Zukunft beschäftigt gewesen und hatte dabei versäumt, in der Gegenwart zu leben.
Auch jetzt wieder hätte Michael seinen Vater gerne bei sich gehabt, aber wie schon vor einem Jahr, als Mary starb, musste er ohne Alecs klugen Rat auskommen.
In Michaels Innerem drehte sich alles um Marys Bitte, seine wirklichen Eltern zu suchen – was von der Visitenkarte, auf der die gleiche Adresse stand, die Mary notiert hatte, noch verstärkt wurde. Die Adresse von Stephen Kelley, einem Rechtsanwalt, von dem Mary glaubte, er könne Michael bei seiner Suche helfen.
Alec hatte Michael stets gedrängt, seine leiblichen Eltern ausfindig zu machen und ihm erklärt, dass es wichtig sei zu wissen, wo man herkam und was einen als Menschen ausmachte. Alec hatte ihm schon von frühester Kindheit an erklärt, dass er zwei Elternpaare habe: die Eltern, deren Liebe ihn auf diese Welt gebracht hatte, und die anderen Eltern, deren Liebe ihn in dieser Welt hatte groß werden lassen.
Doch Michael verbannte den Gedanken daran, seine leiblichen Eltern zu suchen, solange die St. Pierres am Leben waren. Er empfand es als Verrat an ihnen – als würde er das Elternpaar verlassen, das sich für ihn entschieden hatte, zugunsten des anderen, das beschlossen hatte, ihn wegzugeben.
Michael stand im Wohnzimmer. Die beiden Hunde schliefen zu seinen Füßen. Er starrte auf Marys Brief und auf die Visitenkarte, die auf dem Sofatisch vor ihm lagen. Die Adresse befand sich in Boston, was beinahe Ausland war für Michael; Franklin Street 22 hatte keine Bedeutung für ihn. Für einen Yankee-Fan war es Feindesland. Er war nur ein paar Mal in der Stadt in New England gewesen, denn er mochte Cape Cod lieber – einen Ort, der für ihn und Mary eine besondere Bedeutung gehabt hatte: Hierher hatten sie sich an den Wochenenden oft zurückgezogen.
In Michaels Innerem herrschte Verwirrung, als er nun über die Visitenkarte nachdachte. Es war kein Zufall, dass die Adresse auf der Karte dieselbe war, die Mary ihm gegeben hatte – das wurde ihm beim Schlagen der Wanduhr um vier Uhr morgens endgültig klar.
Michael hob sein Glas, trank den Whiskey aus und griff nach der Flasche, um sich nachzuschenken. Noch einmal ließ er sich die Ereignisse der letzten Stunden durch den Kopf gehen. Er war sicher, dass er irgendetwas übersah und dass es einen Hinweis gab, den er bisher noch nicht entdeckt hatte …
Im nächsten Moment traf es ihn wie ein Blitzschlag.
Er war dermaßen fixiert gewesen auf die Visitenkarte, dass er darüber die vom Wasser des Sees durchweichte Handtasche vergessen hatte. Er hob sie vom Boden auf und legte sie auf den Sofatisch. Es war eine schlichte, hellbraune Ledertasche mit Messingschließe und einem geflochtenen Tragegriff. Dreimal überprüfte er jede leere Innentasche sowie die Säume. Seltsam. Da war nichts, was sich normalerweise in der Handtasche befand, keine persönliche Habe, keine der üblichen Utensilien zum Zurechtmachen. Die Handtasche war leer bis auf die Visitenkarte, die das Wasser nicht hatte herausspülen können.
Plötzlich lief Michael ein eisiger Schauer über den Rücken.
Er trat einen Schritt zurück und sah sich die Handtasche noch einmal an. Was ihn fesselte, war weder die Machart der Tasche noch die Visitenkarte, die er darin gefunden hatte. Es war die Tasche selbst.
Für Michael gab es keinen Zweifel: Er hatte diese Handtasche schon einmal gesehen.
8.
I lja Raechen befand sich an der Delaware Memorial Bridge, als er endlich durchzuatmen wagte. Er hatte den Chevrolet Suburban mit den getönten Scheiben die letzten vier Stunden gefahren, ohne dabei einen Laut von sich zu geben oder den Knopf des Radios zu berühren. Er jagte über den New Jersey Turnpike und war froh, dass die Vignette am Wagen prangte, sodass die Mautstellen kein Hindernis für ihn darstellten: Je weniger Leute ihn sahen, desto besser. Es war zwar ein Klischee, mit einem Opfer unterwegs zu sein, das gefesselt
Weitere Kostenlose Bücher