Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Michael hielt einen Augenblick inne und bekreuzigte sich, betete für den oder die Menschen, die sich im Wagen befanden und nie eine Chance gehabt hatten. Er hoffte inständig, dass keine Kinder unter den Opfern waren, als er nun mit der Taschenlampe durch die offene Tür leuchtete. Die innere Anspannung, die er gerade noch empfunden hatte, war mit einem Schlag dahin. Er schaute noch einmal nach, dann noch einmal, blickte auf die Rückbank, auf den Boden und auf die gefangenen Luftblasen, die unter der Decke tanzten. Dann verließ er das Fahrzeug wieder, froh, dass es keine Insassen gab. Er arbeitete sich um den Wagen herum zur Beifahrerseite und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie rührte sich keinen Millimeter, wurde von Steinen eingeklemmt. Er schwamm um den Wagen herum zurück zur Fahrerseite und stellte fest, dass dort unter dem Sitz etwas hervorhing. Er griff danach und zog eine hellbraune Ledertasche heraus. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe darauf, zog den Reißverschluss auf und war mehr als überrascht, dass sie fast leer war. Da war kein Kamm, Bürste oder Schminkutensilien, keine Geldbörse, keine Kreditkarten – nur eine einsame Visitenkarte.
Michael schwebte über dem Grund des Sees und wurde sich plötzlich der Stille um ihn her bewusst, die nur unterbrochen wurde von seinen Atemzügen durch den Lungenautomaten – und die waren auf einmal so laut, als wäre er Darth Vader. Er konnte mit dem Namen Stephen Kelley nichts anfangen und schaute sich die Karte genauer an.
Als er mit der Taschenlampe darauf leuchtete, lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Er atmete so schwer und hastig, als wäre sein Sauerstoffgerät auf einmal leer. Panik überkam ihn. Dreißig Meter unter der Wasseroberfläche war die Adresse im Licht der Lampe deutlich zu erkennen. Es war eine Adresse in Boston. Eine Adresse, die Michael sich vor nicht einmal sechs Stunden eingeprägt hatte.
Es war die gleiche Adresse, die Mary niedergeschrieben hatte: Franklin Street 22, Boston.
6.
I lja Raechen saß in seinem Motelzimmer und sann darüber nach, welche Komplikationen auftreten konnten. Er pickte in einer Schale mit süßsaurem Schweinefleisch und ließ sich die vergangenen acht Stunden noch einmal durch den Kopf gehen. Drei Monate hatte er damit zugebracht, den gesamten Globus nach Genevieve Zivera abzusuchen, und endlich hatte er sie aufgespürt. Die Informationen, die man ihm gegeben hatte, wiesen nach Westchester County im Bundesstaat New York und nach Boston, Massachusetts. Beide Orte standen in irgendeinem Zusammenhang, doch es war Raechen nicht gelungen, diese Verbindung aufzudecken. Er hatte überlegt, ob er sich Genevieve blitzartig schnappen oder einfach warten sollte, bis sie an ihrem Bestimmungsort eintraf, wo er sie fesseln und mit ihr verschwinden konnte.
Seine Aufgabe setzte ihm gewaltig zu. Er musste unbedingt nach Hause; er hatte seinem Sohn versprochen, nicht länger als einen Tag wegzubleiben. Er hatte in all den Jahren noch nie ein Versprechen gebrochen. Und gerade jetzt konnte er ihn nicht im Stich lassen. Denn Sergei, sein einziger Sohn, lag krank im Bett, und sein Zustand wurde immer schlechter. Und Sergei war gerade mal sechs Jahre alt.
Als Raechen den Anruf erhielt, protestierte er, doch seine ehemaligen Vorgesetzten wollten nichts davon hören. Sie appellierten an seinen Stolz, sein Pflichtgefühl, seine Ehre. Was jedoch letzten Endes dazu führte, dass Raechen seine Meinung änderte und aus dem Ruhestand in den »Kreis seiner Lieben« zurückkehrte, war ein Versprechen: Sie sagten ihm, sie würden einen Weg finden, seinen Sohn aus den tödlichen Fängen des Schicksals zu retten, falls er bei seiner Mission erfolgreich war.
Der zweiundfünfzigjährige Ilja Raechen war eins neunzig groß, und seine Muskeln waren immer noch so kräftig und straff wie zu der Zeit, als er mit sechsundzwanzig Jahren Hauptmann in der Roten Armee geworden war. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen silbergrau geworden, aber seine grauen Augen waren immer noch so scharf wie damals. Er hatte die harten Züge, die er der Familie seiner Mutter zu verdanken hatte; sein Gesicht war so kantig und schroff, dass es Furcht erregen konnte. Dieses Erscheinungsbild hatte Raechen sich oft zunutze gemacht. Er war eine Art Legende. Seinen Ruf hatte er bei verdeckten Operationen für den Geheimdienst der damaligen UdSSR erworben.
Ilja Raechen war Auftragsmörder und sehr geschickt, wenn es galt, Informationen aus jemandem
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