Die Quelle
wie
sie, wirkte er außer Atem. Er war stehen geblieben und sah sie an. Sandra
brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass um diese Zeit niemand
außer ihnen beiden am Bahnhof war. Die ersten Züge fuhren erst in
einer Dreiviertelstunde. Sie war mit ihm allein. Angst drohte ihren Verstand zu
übermannen, als Daniel sich ihr langsam näherte. Sie beobachtete
seine zögerlichen Schritte. Sie war bereit, die Flucht zu ergreifen. Ihre
Gedanken rasten. Was würde er wagen ihr anzutun, hier in der
Öffentlichkeit, am Bahnhof? Sein Gesicht wirkte freundlich, sanft, doch
sie spürte, wie die Kälte in ihrem Körper wuchs, je näher
er kam. Etwas tobte in ihr, etwas, das seine Anwesenheit wahrgenommen hatte.
Sie sprang auf. Sie wollte fliehen, doch wohin? Der
einzige Fluchtweg führte an Daniel vorbei! Als habe er an ihrem Blick ihre
Fluchtgedanken durchschaut, taxierte er kurz das Gleis, er schien zu
zögern. Sandra wusste, so wie wohl auch er, eine Chance ihm hier zu
entkommen, hatte sie keine. Er blieb dennoch stehen. Weshalb? Um mit ihr zu
sprechen, war er noch zu weit. Sandras Beine zitterten. Ein
Schweißausbruch verriet ihr, dass ihre Kräfte am Ende waren. Ihr
blieb nichts anderes übrig, als sich wieder hinzusetzen. Sie beobachtete
jede von Daniels Bewegungen. Ihr Herz schlug immer stärker in ihrer Brust.
Sie kam sich vor wie eine umstellte Beute. Daniel setzte seinen Weg fort.
Schritt für Schritt kam er ihr näher. Es war, als würde er von
Kälte begleitet… Bei jedem Schritt, den er ihr näher kam, verlor sie
etwas mehr ihrer Körperwärme. Sie zitterte nicht mehr nur aus Angst,
sie zitterte vor Kälte. Etwas Eisiges strahlte er aus, etwas Eisiges in
ihr erwachte… es war, als krieche eine fremde Anwesenheit aus ihrem Bauch
herauf und nähme ihren zitternden Körper ein, zerrte sie in seine
eisige Welt. Als Daniel schließlich vor ihr stand, konnte sie sich nicht
mehr rühren. Sie bestand nur noch aus Angst.
„Sandra? Darf ich mich zu dir setzen?“ Seine Stimme hatte
ruhig und liebevoll geklungen, dennoch erschauderte Sandra. Sie konnte ihn
nicht einmal richtig ansehen, stattdessen starrte sie auf seine
Füße. Er kam nicht mehr näher. Er wartete. Sandra spürte,
wie ihr Körper sich allmählich aus der Erstarrung löste, doch
aufstehen hätte sie nicht können. Rückartig rutschte sie bis ans
Ende der Holzbank und wandte ihm den Rücken zu. Daniels körperliche
Nähe war ihr unerträglich.
„Sandra, ich spüre das auch! Du kannst es
bekämpfen… Bitte bekämpfe es.“, flehte er sie leise an.
Ein Bild huschte durch ihre Erinnerungen… Sie sah ihn auf
sich liegen, sie sah wieder, wie sein Gesicht sich verzerrte, wie ein Schatten
aus seinem Mund herauskroch, bedrohlich, dunkler als alles, was sie zuvor
gesehen hatte… Noch während sie um ihren Verstand gerungen hatte, war
diese dunkle Masse in sie eingedrungen, hatte sie mit Schmerz und Kälte
erfüllt, ihr jede Wärme und Hoffnung entzogen…
Erfüllt von der überwältigenden Angst, die
in ihr aufgewühlt worden war, fand Sandra die Kraft, von der Bank
aufzuspringen. Sie machte einen Satz nach vorn, ehe sie sich umdrehte und
Daniel ansah. Fast erwartete sie, er würde sie wie ein Raubtier anspringen
und zerfleischen. Ihr Herz raste und sie hörte ihr eigenes, lautes Atmen.
Daniel rührte sich jedoch nicht. Er schien sie nicht noch weiter von sich
treiben zu wollen. Wieder sprach er sie an, etwas lauter diesmal, wohl um die
Distanz zwischen ihnen zu überwinden.
„Sandra, bitte renn nicht von mir weg. Du weißt,
dass ich dir nie etwas antun würde.“
Lüge! dachte Sandra… Sie wusste nicht, was genau
geschehen war. Aber sie wusste, etwas Böses war in ihr, und das Böse
wollte zu Daniel. Nein, sie würde ihm nicht nachgeben! Hilfesuchend sah
sie um sich und dann erblickte sie ihn. Ein Carabinieri, oder war es ein Bahnhofspolizist?
Auf jeden Fall, würde Sandra bald einen Verbündeten finden, denn der
aufmerksame Mann beobachtete sie und augenscheinlich war ihm die Szenerie, die
sich vor seinen Augen abspielte, verdächtig genug, um einige Schritte in
ihre Richtung zu machen. Daniel hatte ihn nicht sehen können. Ihm konnte
daher nicht bewusst werden, wie sich Sandras Rettung langsam schlendernd
näherte. Sie schöpfte neue Hoffnung, doch spürte gleichzeitig,
wie ihr allmählich wieder schwindlig wurde. Vorsichtig ging sie bis zur
nächsten Bank, um sich wieder hinzusetzen.
Obwohl er ihr folgte, behielt Daniel diesmal genug
Abstand
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