Die Quelle
nichts daran geändert.
Nicht all die Therapiesitzungen, sondern das heutige
Gespräch, so wusste Lisa, bot die Gelegenheit, der Wahrheit endlich
näher zu kommen. Obwohl sie genau sehen konnte, wie quälend es
für ihre Mutter war, darüber zu sprechen, wollte sie noch mehr
erfahren.
„Was ist das Erste, woran du dich danach erinnern
kannst?“
„An Schmerzen... Ich kann mich an die Schmerzen
erinnern…“
Heimlich tauchte Lisa erneut in Sandras Gedankenwelt ein,
während ihre Mutter ihre Erzählung wieder aufnahm…
*
…Schmerz war das erste, was Sandra spürte, als sie
wach wurde. Ihr Bauch brannte wie Feuer und doch fühlte sie sich ruhig,
wie schon lange nicht mehr.
Sie hatte ihre Augen geschlossen, doch durch ihre Lider
konnte sie erkennen, dass der Raum, in dem sie sich befand, hell erleuchtet
war. Was war passiert? Sie traute sich nicht die Augen zu öffnen…
Würde sie dann wieder in das dunkle kalte Loch hineinfallen?
Sie hörte eine Stimme. „Ich glaube, sie ist wach.“
Es war eine angenehme tiefe Männerstimme. Irgendwo hatte sie diese schon
gehört, doch sie konnte sie nicht zuordnen. Vorsichtig blinzelte sie und
das Erste, was sie sah, war das besorgte Gesicht ihrer Mutter. Sie brachte nur
ein müdes Lächeln zustande, ehe sie wieder in Schlaf versank. Nur
noch wenige Worte hallten in ihren Gedanken nach, doch sie war zu müde, um
zu antworten.
„Sandra, mein Schätzchen!“, hörte sie die
besorgte Stimme ihrer Mutter.
Die Männerstimme erklang.
„Warten sie, lassen sie sie schlafen. Sie dürfen
jetzt nicht überreagieren, verschrecken sie Sandra nicht. Vorsicht ist
geboten.“
*
Als Sandra erneut wach wurde, saß Veronika neben ihr
und las ein Magazin. Sandra konnte sich nicht daran erinnern, ihre Mutter
jemals so müde gesehen zu haben, dennoch saß sie stoisch auf ihrem
Stuhl und las. Sandras Bauch brannte noch immer, doch die Schmerzen waren nun
erträglich. Sie blickte in das Krankenhauszimmer und wunderte sich
darüber, wie lange sie schon hier lag. Sie konnte sich an Albträume
erinnern, an tiefe, kalte Dunkelheit. Bei dem Gedanken fröstelte sie. Die
Kälte war noch immer da, lag wie eine dünne Eisschicht auf ihrer
Brust. Sie versuchte sich zu bewegen, doch die Anstrengung erschien ihr
übermenschlich.
Veronika blickte von ihrer Zeitschrift auf, als sie das
leise Rascheln der Bettdecke hörte. Sandra sah sie lächeln. Ihre
Kehle fühlte sich trocken und belegt an, sie räusperte sich. Veronika
legte die Zeitung beiseite und näherte sich ihrem Bett. Während sie
sie ansprach, drückte sie auf die Taste, die die Krankenschwester rufen
würde.
„Wie geht es dir, mein Schatz?“
Sandra schluckte, ehe sie versuchte zu antworten, doch
obwohl ihre Lippen sich bewegten, brachte sie keinen Ton hervor. Was war
bloß mit ihrem Körper? Er wollte ihr einfach nicht gehorchen und
fühlte sich so unendlich schwach an.
Veronika strich ihr eine Haarsträhne aus dem
Gesicht. Bei dieser so vertrauten Geste füllten sich Sandras Augen mit
Tränen. Sie wusste nicht weshalb, doch sie empfand plötzlich eine so
tiefe Trauer, dass sie einfach weinen musste.
Erschüttert nahm Veronika ihre Tochter in die Arme.
Sie hielt sie fest, so fest, dass Ihre Umarmung Sandra fast Schmerzen
bereitete, doch sie war dankbar für diese Nähe, sie brauchte sie
ebenso wie die tröstende Worte, die ihre Mutter ihr sagte.
„Mein armes Kind! Es wird alles wieder gut! Mach dir
keine Sorgen, ich habe auch nach deiner Geburt geweint, das ist ganz normal...
Das liegt nur an den Hormonen.“
Die Krankenschwester, die gerade den Raum betreten hatte,
stutzte bei Veronikas Bemerkung, doch Sandra hatte die Worte ohnehin nicht
richtig erfasst. Ein taubes Gefühl rang in ihr und wartete darauf,
verstanden zu werden.
Ein Arzt kam nur einen Augenblick später in das
Zimmer. Er war groß gewachsen, wirkte distanziert und strahlte die Art
von Autorität aus, die den meisten Ärzten zu Eigen war. Veronika
schritt ungeduldig zu ihm.
„Dr. Adameczki, sie…“
Er unterbrach sie unhöflich.
„Beruhigen Sie sich erst. Bitte gehen Sie nach
draußen, ich möchte Ihre Tochter in Ruhe untersuchen.“ Mit
routiniertem Blick zur Krankenschwester fuhr er fort. „Würden Sie Frau
Koller nach draußen begeleiten?“
„Das ist nicht nötig!“, antwortete Veronika pikiert.
Sie lächelte Sandra noch einmal herzlich an, ehe sie sich mit Tränen
in den Augen abwandte und zusammen mit der Krankenschwester hinaus ging. Sandra
sah
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