Die Rache der Engel
den Oberst irgendetwas an meinen Ausführungen erstaunte, so ließ er es sich nicht anmerken.
» Wie kam es dazu?«, fragte er.
» Was? Wie wir uns kennenlernten?«
Allen nickte.
» Ist das wichtig?«
» Vielleicht.«
» Schon gut«, sagte ich und atmete tief durch. » Das ist Jahre her. Martin kam, wie so viele Jakobspilger, in unseren Ort. Ich arbeitete damals als Fremdenführerin in einer Kirche in Noia, einem Ort an der Costa da Morte. Martin wollte unbedingt die Kirche besichtigen und wir kamen ins Gespräch. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch, und er begann, mir Dinge über mein Leben zu erzählen. Persönliche Dinge, über meine Arbeit, über meine Freundinnen… Ich dachte zuerst, dass sei ein Trick, mit dem dieser Pilger die Mädels beeindruckt, und dass er mich nur anmachen wollte. Aber die Sache ging tiefer. Er sagte mir, dass ich so etwas auch machen könne, genau wie er. Dass ich eine natürliche Begabung dafür besitze. Er versprach, mir alles zu erklären, wenn ich wolle… Und in den Tagen, die er sich dann in unserem Ort aufhielt, verliebte ich mich allmählich in ihn. Ganz einfach.« Ich bemerkte, wie sich der Blick des Offiziers verdüsterte. Das kannte ich nur zu gut, so ging es immer, wenn ich diese Geschichte erzählte. Trotzdem sprach ich weiter.
» Ich will, dass Sie Martin befreien, Colonel Allen. Wenn Sie mir versprechen ihn zu finden, erkläre ich Ihnen alles, was mit meiner Gabe zu tun hat, ganz genau. Aber, bitte, helfen Sie mir!«
Zum ersten Mal während unseres Gesprächs sprach aus Allens Blick Mitleid, vielleicht sogar Sanftmut. Er zog seine angegrauten Augenbrauen hoch und setzte eine versöhnliche Miene auf.
» Das verspreche ich Ihnen«, sagte er. » Deshalb bin ich ja hier.«
Und mit einer Offenheit, die mir zuvor nicht bei ihm aufgefallen war, ergänzte er: » Kann es sein, dass ›alles‹ mit diesem Anhänger zu tun hat, den Martin in der Hand hält, oder täusche ich mich?«
» Nein, Sie haben recht. Aber lassen Sie es mich mit meinen Worten erzählen.«
» Sehr schön. Wo waren wir stehen geblieben?«
» Bei der Gabe der Vision.«
» Ja, richtig.«
» Sehen Sie, Mr Allen. Es ähnelt sehr dem, was die Leute Hellsehen nennen, aber es ist nicht das Gleiche. Sie können sich vorstellen, dass man damit äußerst diskret umgehen muss. Ich habe beispielsweise während meines ganzen Studiums meinen Kommilitonen und Dozenten immer verheimlicht, was mit mir los war. Jedes Mal, wenn ich ein Museum oder ein historisches Gebäude besuchte, setzte meine Vision ein. Anfangs spürte ich auf meiner Haut, dass etwas passieren würde. Dass mir Gemälde Geheimnisse über ihre Urheber, ihre Modelle oder ihre Epoche zuflüstern würden. In meinem Kopf entstanden ganze Szenen mit Personen, die ich niemals kennengelernt hatte. Ich konnte Inschriften in exotischen Sprachen verstehen oder den eigentlichen Sinn eines Skulpturenensembles, durch das bloße Betrachten. Können Sie sich vorstellen, wie schmerzhaft es ist, wenn man davon erzählt und einem niemand glaubt? Haben Sie eine Ahnung, was es in einer aufgeklärten Welt wie dieser, die sich auf die Materie und den Verstand stützt, bedeutet, wenn ein Mensch zu so etwas fähig ist und die anderen nicht? Diese Gabe führte dazu, dass ich mir immer merkwürdig vorkam. Klug, aber merkwürdig. Ich begriff, dass ich es irgendwie unterdrücken musste, um nicht wahnsinnig zu werden.«
» Martin Faber hat sich für Ihre Gabe interessiert.«
» Ja, sehr.«
» Wissen Sie, warum?«
» Hm… Ja«, antwortete ich zögerlich.
» Bitte«, forderte mich der Oberst auf, der angesichts meiner Unschlüssigkeit lächelte, » verheimlichen Sie mir nichts. Sie haben mein Wort, ich werde Ihnen helfen, Martin zu finden, aber ich benötige Ihre Mitarbeit.«
» Es geht um ein Familiengeheimnis.«
» Noch ein Familiengeheimnis?«
» Ja, aber eines der Familie Faber.«
» Was ist das für ein Geheimnis?«
» Der Stein, den Martin in dem Film in der Hand hält, hat eine große Kraft. Er besitzt fast die Stärke von Atomkraft.«
Allen sah mich noch ernster an als vorher, ließ sich aber zu keinem Kommentar hinreißen.
» Ich erfuhr zum ersten Mal am Tag vor unserer Hochzeit davon. Ich versichere Ihnen, es ist eine lange Geschichte… Aber wenn ich sie Ihnen erklären soll, sitzen wir womöglich noch die ganze Nacht hier.«
» Das macht überhaupt nichts. Ich möchte sie gerne hören.«
12
Trotz der nächtlichen Stunde beschloss Inspektor
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