Die Rache der Engel
Höhepunkt dieser absurden Situation verspürte ich einen fernen Schmerz. Das unverwechselbare Gefühl, als der heiße Kaffee über meine Kleidung rann. Aber ich konnte mich trotz allem nicht bewegen. Nicht einmal den Blick abwenden oder den Händen einen allerletzten Nervenimpuls zukommen lassen, um nicht zu Boden zu stürzen. Es war schlicht und ergreifend unmöglich. Glücklicherweise tat mir der Aufprall auf dem Eichenparkett des Cafés nicht weh.
Für eine tausendstel Sekunde bevor alles endgültig dunkel wurde, war ich noch einmal hellwach. Eine furchtbare Klarheit, die ich dennoch als Befreiung empfand:
Ich war tot. Ja, so war es.
Für mich war alles zu Ende.
24
Das Zimmer von Pater Benigno Fornés im Klostergebäude von San Martín Pinario zeigte genau zur nördlichen Azabacheria-Fassade der Kathedrale. Es hatte einen Balkon mit Blick auf den kleinen Garten des bischöflichen Gelmírez-Palastes und auf die Plaza de la Inmaculada. Von der Balkonbrüstung aus konnte der Geistliche die Kirche genau sehen. Vielleicht war es dieser privilegierte Ausblick, der ihn nach der Schießerei daran hinderte, in den Schlaf zu finden. Der Dekan befand sich in großer Sorge. Trotz der von außen eindringenden Kälte weigerte er sich, das Zimmerfenster zu schließen, und er ließ auch sein Handy eingeschaltet. Wenn erneut etwas den Jahrhunderte währenden Frieden seiner Kathedrale erschüttern sollte, wollte er es als Erster erfahren.
Der alte Mann hatte eine düstere Vorahnung. Er war zu Füßen dieser Mauern aufgewachsen, und er spürte es jedes Mal sofort, wenn sich hier irgendetwas veränderte, auch wenn er sich das selbst nicht erklären konnte. Das Gefühl drang in seine Haut. Es war unerklärlich. Deshalb war er, als am frühen Morgen weitere kleine Vorfälle seinen Halbschlaf störten, keineswegs überrascht.
Zuerst rissen ihn die Stromausfälle aus dem Bett. Der Dekan stand auf, als er bemerkte, dass das helle Straßenlicht erlosch, um innerhalb von Sekunden wieder aufzuleuchten und dann erneut auszugehen. Er beschloss, der Sache nachzugehen. Der Fehlalarm in der Kathedrale wollte ihm nicht aus dem Kopf. Also kleidete er sich an, zog auch den Mantel über, griff nach einer Taschenlampe und schlich auf Zehenspitzen durch den Bereich mit den Schlafräumen der anderen Kanoniker. Unterwegs betete er, dass die alten Stromkabel die Belastung standgehalten hatten.
Am Portal angekommen, tippte Fornés den sechsstelligen Zahlencode in das Schloss und schaltete die Alarmanlage aus. Er tauchte die knochigen Finger in das kleine Weihwasserbecken zu seiner Linken und bekreuzigte sich. Dann drang er vorsichtig in das Innere der Kathedrale vor.
Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein.
Von dem orangefarbenen Licht, das die Nachbarn alarmiert hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Selbst im Dunkeln verströmte der Ort eine beeindruckende Erhabenheit. Der Schein einer Handvoll letzter Kerzen erleuchtete einige der besonders heiligen Winkel. Das Baptisterium und die Kapelle Santa María de Corticela schimmerten im Zwielicht. Bei ihrem Anblick schrak der Dekan zusammen. Der alte Fornés konnte sich noch gut an die Zeiten erinnern, in denen dieser heilige Raum von mehr als 8000 Quadratmetern Fläche den Gläubigen Tag und Nacht offen stand. Natürlich waren das andere Zeiten gewesen. Und Vorfälle wie die Schüsse in dieser Nacht trugen nicht gerade dazu bei, die Dinge wieder zu bessern.
Der Dekan richtete schweigend den Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf die Puerta de Platerías, und dann tiefer in das Hauptschiff. Die Wolke, die hier zu sehen gewesen war, hatte keinerlei Rauchspuren an den Wänden hinterlassen.
» Sollte das etwa ein Zeichen des Himmels gewesen sein?«
Diese Frage, die der Dekan seinem Erzbischof gestellt hatte, nachdem ihm der gottlose Inspektor Figueiras alle Informationen über den Vorfall gegeben hatte, enthielt mehr als einen Zweifel. Sie enthielt einen Vorschlag. Eine Warnung. Aber der höchste Vertreter der katholischen Kirche in Santiago hatte den Dekan wieder einmal enttäuscht. Der junge Theologe, der erst vor einem Jahr auf den Bischofsstuhl gelangt war, war einfach nicht in der Lage, seine Andeutungen zu erfassen. Eigentlich hätte Fornés es sich denken können. Seine Exzellenz Juan Martos war einer von diesen neuen Bischöfen mittleren Alters, die ohne Soutane und Bischofsring durchaus als Manager eines großen Konzerns durchgehen könnten. Ein Mann mit einem unauffälligen
Weitere Kostenlose Bücher