Die Rache der Engel
Aussehen, makellos, eiskalt, der sich– leider, aus der Sicht des Dekans– vor allem für die Organisation des Irdischen und kaum für die Sublimation des Geistes interessierte.
» Ein Zeichen, sagen Sie?«, hatte der Erzbischof erstaunt gefragt. » Padre Fornés, was genau wollen Sie damit sagen?«
» Bedenken Sie, dieser Ort ist im 9 . Jahrhundert gegründet worden, als wundersame Lichter den Eremiten Pelayo auf einen heiligen Gegenstand in dieser Gegend hinwiesen. Die Legende besagt, dass er Ihren berühmten Vorgänger, Bischof Theodemir, benachrichtigte, der sich zu der Stelle begab und dort einen der bedeutendsten Schätze der Christenheit entdeckte.«
» Ja, den Sarkophag mit den Knochen des Apostel Jakobus«, stellte Bischof Martos nicht sonderlich begeistert fest.
» Genau, Eure Exzellenz. Ich gebe zu bedenken, dass solche Lichter zuweilen Zeichen Gottes sind. Weckrufe an unsere Aufmerksamkeit. Damit wir Menschen aufwachen.«
Juan Martos nahm das ohne allzu großes Interesse zur Kenntnis. Für den jungen Erzbischof war Santiagos tausendjährige Geschichte zu weit weg, um zu begreifen, was ihm der Dekan andeuten wollte. Fornés hingegen erfasste schlagartig, dass sein Bischof nicht über die okkulte Funktion der Kathedrale von Santiago de Compostela informiert war. Er war kein Mann » der Tradition«. Andernfalls hätte er nicht befohlen, die Kirche abzuschließen, und angeordnet, dass niemand sie betreten sollte, bis die Polizei ihre Arbeit beendet hatte.
Das war auch der Grund, warum der Dekan, eifrig auf seine Funktion als Wächter der Kirchengeheimnisse bedacht, entgegen den Anweisungen seines Vorgesetzten handelte und beschloss, die Lage selbst in Augenschein zu nehmen. Schließlich und endlich hatte die göttliche Vorsehung ihm den Auftrag erteilt, über dieses Gebäude zu wachen. Und nichts und niemand konnte ihn daran hindern. Nicht einmal sein Erzbischof.
Im Gotteshaus herrschte völlige Ruhe.
Beim Pórtico de la Gloriain Ordnung Ort und Stelle zu sein, so, wie Julia Álvarez es hinterlassen hatte, sein Schützling.
Julia war eine besondere junge Frau. Der Dekan hatte es gleich bei ihrer ersten Begegnung bemerkt. Nicht nur wegen ihres Lebenslaufes– der zudem herausragend war–, sondern vor allem aufgrund der Entschlossenheit und Offenheit, die Julia bei den Besprechungen mit den anderen Restauratoren der Skulpturen an den Tag legte. Als Julia angedeutet hatte, womöglich beruhe der jüngste Verfall der Mauern und Bildnisse der Kathedrale auf irgendeiner unsichtbaren tellurischen, unterirdischen Kraft, hatte sie sich dem Geheimnis von Compostela genähert, das er beschützte.
Als der Strahl seiner Taschenlampe auf den hellen Mittelpfeiler des Pórtico traf, ließ Fornés von diesem Gedanken wieder ab. Nur wenige wussten es, doch dieser Stein verbarg den Grund für die Existenz von Compostela. Genaugenommen handelte es sich um eine Bildersäule mit kleinen Darstellungen von menschlichen Wesen, die den Stammbaum Jesu bildeten, der von einer rätselhaften bärtigen Figur am Boden, die zwei Löwen am Hals packte, zu Santiago, also dem Apostel Jakobus, und darüber hinaus zu dem wiederauferstandenen Christus führte.Das Ganze hatte etwas von einer DNA -Spirale avant-la-lettre.
Alles war an seinem Platz. Gott sei Dank, keine Kugel hatte dieses Wunderwerk beschädigt.
Etwas beruhigter ging der Geistliche zur Vierung zurück und begab sich zum Schauplatz der Schießerei. Die Polizei hatte den Bereich mit Plastikband abgesperrt, doch Pater Fornés war das egal. Er lüpfte die Absperrung und schlich behutsam zwischen den Bänken hindurch. Seine Taschenlampe offenbarte ihm sogleich die Schäden: Mehrere Handläufe waren von den Kugeln zerstört worden und der Boden war mit Holzsplittern übersät. Einiges war von der Spurensicherung mit Zahlen gekennzeichnet worden, so etwa die Metallhülsen, die auf dem Boden lagen, und auf den Bänken befand sich noch ein Teil der Ausrüstung, um Fingerabdrücke und Proben zu nehmen, was gewiss am nächsten Morgen fortgesetzt werden würde. Der Dekan rührte nichts davon an und steuerte auf den Bereich zu, der ihn am meisten interessierte.
Dabei handelte es sich– und keiner wusste dies besser als er– um den ältesten Teil der Kathedrale. Dort hatte der bewundernswerte Baumeister Bernard der Ältere, vermutlich im Jahr 1075 , den Grundstein für das ganze Kirchengebäude gelegt, und zwar, so besagte die Überlieferung, geleitet von Engeln des
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