Die Rache der Horden
Steppe müssen wir sie aufhalten. Eine Linie anlegen wie Bobbie Lee vor Petersburg: Gräben, Erdwälle, Fallen und Verhaue. Wir müssen das Bollwerk so stark machen, dass sie daran ausbluten. Und dort aushalten, bis sie es endlich leid werden und abziehen.
Warum bin ich mir dann so unsicher?, fragte er sich.
Jemand klopfte leise an die Tür zum Empfangszimmer.
»Herein.«
Er hörte den Mann eintreten, wartete aber erst einen Augenblick lang, ehe er sich zu ihm umdrehte. Er hörte den leisen Atem des Mannes und verspürte kurz einen kalten Schauer, als umwaberte den Besucher ein Gestank, der Geruch der Schlachtgruben.
»Ihr wisst, dass jeder, auch meine eigenen Leute, Euch nur zu gern verjagen würde – oder noch besser, zur Strafe der Ausgestoßenen verurteilt sehen möchte.«
»Ich bitte nicht um Verzeihung.« Die Stimme klang kühl. Unverkennbar suzdalischer Akzent mit den wogenden Vokalen, aber gefärbt von der gutturalen Aussprache eines Menschen, der es gewöhnt war, die Sprache der Horden zu benutzen.
Andrew drehte sich zu ihm um und sah ihn an.
»Das Fleisch anderer Menschen zu essen …«, flüsterte Andrew.
»Es hieß, entweder das zu tun oder zu sterben«, antwortete Juri. »Alle, die als Schoßtiere gehalten werden, sind dazu gezwungen – es ist die Art der Horden, uns auf Distanz zur eigenen Lebensform zu bringen. Ich wollte überleben.«
Andrew versuchte sich vorzustellen, wie er sich in einer solchen Lage verhalten würde. Er musste an die Donner Party denken und an die Männer der Essex, die so weit gegangen waren auszulosen, wer niedergeschlagen und verspeist werden sollte, wobei der Sohn das Kapitäns zu den Opfern gehörte. Denn dies ist mein Leib … Gotteslästerung! Er verbannte den Gedanken.
Von welchen Dämonen die Überlebenden später gehetzt worden sein mussten, nachdem sie das nachdrücklichste aller Tabus gebrochen hatten: verzehre nicht das Fleisch der eigenen Art!
»In der Behaglichkeit dieses Zimmers ist es leicht zu sagen, zu denken, dass man anders handeln würde«, sagte Juri, und der Hauch eines Lächelns lief über seine blassen Züge. »Und dann erlebt man es mit, das Mondfest, wenn die strampelnden Opfer herangeführt werden, vor Angst schreiend; man sieht die Zuckungen der Sterbenden und den Spott der Merki, deren goldene Löffel im Lampenschein aufleuchten. Die Augen der gefolterten Opfer, die dunkel werden. Und dann blicken sie dich an und stellen dir den Teller direkt vor die Nase.
›Iss‹, spotten sie …« Und er flüsterte diese Worte auf Merki, »›iss, oder du bist der Nächste!‹«
Er blickte Andrew in die Augen.
»Ich wollte am Leben bleiben …« Er brach ab. »Ich konnte das Grauen in den Augen der Mondopfer nicht ertragen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein eigener Schädel so aufgerissen würde, während ich noch am Leben bin. Ich konnte das Grauen eines solchen Endes nicht ertragen: der eigene Schädel geöffnet, der Schamane, der die goldene Feldflasche ausgießt …«
Seine Stimme verklang, und die Andeutung eines Schauers lief durch ihn.
»Und so habe ich gegessen …«
Andrew schwieg. Es war auf perverse Art und Weise faszinierend, sich so etwas anzuhören. Ein kühles Grauen, das damit verbunden war, etwas Obszönes zu betrachten und sich doch nicht abzuwenden, in den Bann geschlagen von der Faszination des Verbotenen, des Grotesken. Während seine Frau und sein Kind im Stockwerk über ihm schliefen, lauschte er, als wäre Lazarus von den Toren der Hölle zurückgekehrt, um zu berichten.
»Beim zweiten Mal war es schon nicht mehr so schlimm, denn schließlich kann man, wenn man schon verdammt ist, durch fortgesetzte Verderbtheit nicht noch mehr verdammt werden. Und irgendwann habe ich nicht mal mehr bemerkt, was auf dem Teller lag; es gehörte einfach zu meiner Existenz in der Hölle. Ich war einer von ihnen. Nach einer gewissen Zeit habe ich mir nichts mehr daraus gemacht.«
»Warum seid Ihr dann fortgegangen?«, fragte Andrew.
»Man vergisst niemals das Flüstern der heimatlichen Gewässer, den Geruch des heimatlichen Herdes, die Stimmen des eigenen Volkes, das Lachen der Kinder, von denen man selbst eines war. Yankee, Ihr müsst das selbst kennen – ich habe Eure Leute von Eurem Maine reden hören.«
Das Wort traf Andrew wie ein Messerstich. Maine. Zuhause. Die Straßen von Brunswick, der schleppende Yankee-Akzent seiner Freunde und Nachbarn, die beschaulichen Frühlingsvormittage, an denen er Unterricht gab,
Weitere Kostenlose Bücher