Die Rache der Jagerin
anderes übrig, als zu warten, bis Hilfe kam.
Falls mir jemand zu Hilfe kam. Die beiden Personen, die mir am ehesten helfen würden, waren beschäftigt. Wahrscheinlich hatte Kismet einen Babysitter für Wyatt abgestellt, und Phin spielte den Superspion bei den Bösen.
Ich hätte nicht so zuversichtlich sein dürfen. Stattdessen hätte ich mir alles anhören, das Spiel mitspielen und so tun sollen, als wäre ich auf der Seite der Triaden. Aber nein, ich musste mich natürlich voll darauf verlassen, dass mir die Flucht gelingen würde. Dabei hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie einen Plan für den Notfall hatten, der einem beliebten Leitspruch der Jäger entsprach: Was du nicht einfangen kannst, musst du erlegen.
Und ich hatte gedacht, ich könnte entkommen.
Komisch, dass nichts so lief, wie ich es geplant hatte. Statt bereits über alle Berge zu sein, lag ich hier auf dem Rücken. Meine Beine waren eingeklemmt unter mehreren Zentnern von Beton- und Stahltrümmern, während einige weitere Tonnen über mir schwankten und nur darauf warteten, einzustürzen und mich mir ihrem Gewicht zu Brei zu zermalmen.
Aus dem Augenwinkel nahm ich orangefarbenes Flimmern wahr, das immer mehr zunahm. Ich versuchte, den Kopf zu drehen, um zu sehen, woher es kam. Das Feuer hatte sich entlang des Förderbandes einen Weg aus der Halle zu mir gebahnt. Es leckte über den Boden, über herumliegende Zementbrocken und Stahlteile und anderen Schutt. Es kroch so langsam vorwärts, als hätte es alle Zeit der Welt.
Ich würde ihm ja auch nicht davonlaufen.
Ich probierte, meine Zehen zu bewegen, und bildete mir ein, dass sie reagierten. Kleine Nadelstiche liefen bis zum Fußgelenk, wanderten aber nicht weiter nach oben. Mein rechtes Bein spürte ich überhaupt nicht. Der Boden, auf dem ich lag, war feucht und klebrig und roch nach Blut, Ruß und altem Maschinenfett. Bei jedem Atemzug bekam ich einen Hustenreiz, meine Lungen bettelten danach, die giftigen Dämpfe ausspeien zu dürfen. Doch Husten würde mir Qualen verursachen und könnte das schwankende Dach vollends zum Einsturz bringen, und dann wäre ich ein für alle Mal erledigt.
Nein! Ich durfte sie nicht gewinnen lassen. Denn ich hatte recht, ich wusste, dass ich recht hatte. Ich musste es nur beweisen, und wenn ich starb, konnte ich das nicht mehr. Dann würden weitere unschuldige Clans abgeschlachtet werden.
»Hallo?«, wollte ich rufen, aber meine Stimme vermochte das Brausen der Flammen in der angrenzenden Halle nicht zu übertönen.
Wenn ich nichts unternahm, würde ich sterben. Mich zu teleportieren würde wahrscheinlich zum selben Ergebnis führen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich – von außerhalb der Fabrik betrachtet – befand. Deshalb wusste ich nicht, wie weit es nach draußen war und wie es dort aussah. Waren vielleicht schon Löschfahrzeuge zur Stelle? Standen Kismet und ihre Leute vor dem Gebäude und schauten zu, wie ich verbrannte? Hatte sie Wyatt womöglich bereits Bescheid gegeben und ihm gesagt, dass es einen schrecklichen Unfall gegeben hatte?
Bitterer Zorn brodelte in meinem Innern. Ich musste es riskieren. Selbst wenn ich mich in einem Maschendrahtzaun materialisieren würde, wäre das besser, als hier im Rauch brennender Gremlinpisse zu ersticken.
Ich holte so tief wie möglich Luft und atmete aus. Ein und aus, um mir Mut zu machen. An einem gewissen Punkt stahlen sich Tränen in meine Atemzüge und verwandelten sie in Schluchzen. Ich schluchzte vor Schmerz, vor Angst und vor Wut. Allmählich formte sich aus dem Schluchzen ein Schrei, ein verzweifeltes Flehen, ein Laut der Hoffnungslosigkeit. Darauf folgte ein zweiter Schrei, der voller Hass war. Hass auf mich selbst, weil ich nicht stark genug war, das zu tun, was ich tun musste.
Hass auf mich, weil ich aufgab.
Mein Schrei wurde von einem anderen beantwortet, schrill und in weiter Ferne, vertraut und zugleich völlig fremd. Ich lauschte angestrengt, um in dem Brausen und Knistern des Feuers und dem Ächzen der Stahlträger etwas zu hören. Da wiederholte sich der Schrei, diesmal etwas näher. Es war ein Vogel.
Nicht irgendein Vogel. Kein Spatz oder Rotkehlchen, sondern ein Raubvogel.
»Phin!«, brüllte ich, so laut ich konnte, war mir aber sicher, dass es nicht laut genug war. Nicht laut genug jedenfalls für das Produkt meiner Einbildungskraft.
Einige Herzschläge lang vernahm ich nichts. Bestimmt hatte ich es mir nur eingebildet. Hatte bloß gehört, was ich hören wollte, weil ich so
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