Die Rache der Jagerin
verzweifelt an eine Rettung glauben wollte. Durch das Flammenmeer hindurch würde mir kein Ritter in weißer Rüstung zu Hilfe eilen.
Erneut ließ der Vogel einen Schrei los, und sein lieblicher Ton drang mir direkt ins Ohr. Ich kreischte auf, als ein Wirbel aus Schwingen und Federn über mich hinwegflatterte. Im spärlichen, orangefarbenen Feuerschein bot sich mir dann der schönste Anblick, den ich je gesehen hatte. Bis auf einen schwarzen Streifen um die Augen und rings um den Scheitel waren Kopf und Hals strahlend weiß, der Schnabel war scharf und gebogen. Der Vogel legte den Kopf zur Seite, so dass mich ein kreisrundes Auge anblickte, das nicht, wie ich erwartet hätte, gelb oder braun war. Nein, die Augen dieses majestätischen Jägers waren strahlend blau.
»Phin?«
Der Fischadler blinzelte, schüttelte sich und – falls das überhaupt möglich war – sah aus, als wäre ihm speiübel.
Ich musste lachen und war überzeugt, dass ich den Verstand verloren hatte. Die Dämpfe benebelten meinen Geist und ließen Wunschbilder vor meinen Augen erscheinen. Es war schlicht unmöglich, dass er mich inmitten dieses Schutthaufens finden konnte. Zumal er keinen Grund gehabt hatte, nach mir zu suchen.
»Du bist nicht real«, keuchte ich. Meine Fresse, wie das Atmen weh tat!
Er stieß einen Schrei aus. Aus weniger als zwanzig Zentimetern Entfernung schnitt der schrille Ton wie ein Messer durch mein Gehirn. Na schön, vielleicht bildete ich mir das doch nicht ein.
Er hüpfte so lange auf seinen eindrucksvollen Klauen herum, bis er eine Armeslänge von mir entfernt einen freien Fleck fand. Dort stellte er sich hin … und wuchs. Federn verschwanden in glatter, sonnengebräunter Haut, die Klauen bildeten sich zu Füßen und Zehen zurück, während die Flügel sich in Arme verwandelten. Innerhalb von Sekunden kauerte Phineas in menschlicher Gestalt auf dem freien Fleck und trug keinen einzigen Fetzen Stoff am Leib. Sofort begann er zu würgen.
»Nicht einatmen«, riet ich ihm überflüssigerweise. »Du hättest nicht herkommen sollen.«
»Ich muss dich von hier fortbringen.« Auf seiner nackten Haut bildete sich ein glänzender Schweißfilm.
»Ich bin hier eingeklemmt.«
»Dann musst du dich teleportieren.«
Was du nicht sagst, Sherlock. »Das habe ich schon probiert.« Nach einem weiteren Atemzug bekam ich einen Hustenanfall. Danach würgte ich, ohne etwas auszuspeien. Galle brannte in meiner wunden Kehle, und Tränen liefen mir die Wangen hinab, vermischten sich mit Schweiß und sammelten sich in meinen Ohren.
»Wie weit kannst du dich teleportieren?«
»Keine Ahnung.«
»Dreihundert Meter?«
Ich blinzelte verständnislos. Mir schwirrte der Kopf, und ich konnte mir bei seinen Worten keine tatsächliche Entfernung vorstellen.
»Drei Fußballfelder?«, probierte er es erneut.
»Vielleicht.«
Er schürzte die dünnen Lippen, und seine Nasenflügel bebten. Selbst in der höllischen Hitze wirkte er bleich. »Du kennst doch den Begrenzungszaun in der Nähe der Einfahrt? Die Hauslücke auf der anderen Straßenseite?«
»Ja, die ist mir aufgefallen.«
»Dort habe ich einen VW-Bus geparkt. Der sieht aus wie ein Wrack, niemand wird ihn beachten.«
»Geht nicht. Weil ich ihn nicht gesehen habe.« Solange ich nicht wusste, wo genau der Bus stand, würde ich ihn nicht erreichen. Oder doch?
»Du hast keine andere Wahl. Er hat hinten keine Sitze drin und ist völlig leer. Kannst du ihn dir vorstellen?«
Ich bemühte mich und rief mir Bilder von solchen Bussen aus Film und Fernsehen in Erinnerung. Lang und schmal, mit vielen Fenstern. Manchmal hingen Vorhänge vor den Scheiben, damit niemand hineinsehen konnte. Viel Platz. Aber weit weg. »Ich glaube schon«, meinte ich.
»Du musst probieren, dorthin zu gelangen, Evy, bitte. Wenn ich mich zurückverwandle, zähle bis zehn und teleportiere dich dann. Wir treffen uns dort.«
»Und was, wenn ich ihn verfehle?« Nur ein einziges Mal hatte ich mich blind teleportiert, und das war gleich nach Wyatts Tod im Altmühl-Gehege gewesen. Damals hatte ich Glück gehabt, dass wir nicht in einem Baum gelandet waren. Und jetzt konnte ich von Glück sagen, wenn ich nicht im Motor des Busses endete.
»Verfehle ihn einfach nicht.« Er lächelte, und in seinem Lächeln lagen Hoffnung, Trost und ein eiserner Wille. Mehr Entschlossenheit, als ich im Moment besaß, und ich war ihm dankbar dafür. Dankbar, dass ich jemanden bei mir hatte, der stark für mich sein konnte. Ich glaubte
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