Die Rache der Jagerin
Schatten. Wahrscheinlich, um sich vollzustopfen. Der alte Gremlin wedelte in Richtung Tür, und ich folgte dem Wink und ging hinaus.
Phin hastete so schnell die Treppe hinab, dass ich immer zwei Stufen auf einmal nehmen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Doch auch ich war froh, den widerlichen Alkoholgeruch hinter mir zu lassen. Phin stürmte zu der Sicherheitstür in den nachmittäglichen Sonnenschein hinaus und erbrach sich sogleich auf den rissigen Asphaltboden. Von seiner einstigen Bräune war nichts mehr zu erkennen, so aschfahl war er geworden. Er würgte alles heraus, was er heute gegessen hatte, vermutlich sogar noch ein bisschen mehr.
Während er unter Krämpfen und Zuckungen seinen Mageninhalt entleerte, hielt ich mich etwas abseits. Mich verwunderte diese krasse Reaktion – und ich empfand mehr Mitleid mit ihm, als ich mir eingestehen wollte. Freilich hatte es da oben gestunken, aber so schlimm war es dann auch wieder nicht gewesen – es sei denn, ihm war nicht allein davon übel geworden. In der Nahrungskette des Übernatürlichen lagen Werwesen und Gremlins ziemlich weit auseinander. Nicht nur, was den Körperbau anging, sondern auch psychisch. Werwesen wiesen alle möglichen Formen, Größen und Verhaltensweisen auf, während Gremlins mehr oder weniger alle dieselbe Größe und Gestalt hatten und ein Gremlin ungefähr so handelte wie der andere. Wenn so etwas wie Individualität bei ihnen überhaupt auftauchte, dann war das selten.
Endlich war Phin fertig. Er spuckte noch einmal aus und richtete sich auf, nur um gleich darauf über die eigenen Füße zu stolpern und auf die Knie zu fallen. Sofort ging mein Pulsschlag schneller, und ich stürzte nach vorn und kauerte mich neben ihn. Doch er streckte mir die Hand entgegen, um mich davon abzuhalten. Vor ihm hockend, legte ich die Ellbogen auf die Schenkel und beobachtete ihn.
Seine Pupillen waren so weit, dass man von dem lebhaften Blau seiner Iris fast nichts mehr sah. Schweiß rann ihm von den Schläfen herab und sammelte sich im Kragen seines ausgeborgten Polohemds. Unter schwerem Keuchen hob und senkte sich seine Brust. Inzwischen war ein bisschen Farbe auf seine Wangen zurückgekehrt, aber ansonsten war er immer noch totenbleich.
Ich wollte etwas Gehaltvolleres sagen. Das Erste, was mir über die Lippen kam, war allerdings der Standardspruch: »Alles okay mit dir?«
»Ist nur etwas peinlich«, gab er zurück, und seine Stimme klang kräftiger, als sein Zustand vermuten ließ. »Tut mir leid.«
»Was? Dass du gekotzt hast? Glaub mir, das ist mir auch schon ein paarmal passiert.«
Er schüttelte den Kopf, hielt den Blick aber geradeaus gerichtet. Mich sah er nicht an. »Dass ich dich nicht so recht unterstützt habe. Ich habe einen Angriffspunkt geboten, indem ich Schwäche gezeigt habe. Das hätte er bei euren Verhandlungen gegen uns verwenden können.«
»Hat er aber nicht.« Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass der Gremlin so etwas tun würde. Gremlins tickten da anders, und das Ganze war ein weiterer Beweis für mich, dass Phin keine Ahnung von diesen Kreaturen hatte. »Sieh mal, da oben hat es bestialisch gestunken, da ist es kein Wunder, dass dir schlecht geworden ist.«
»Es war nicht nur das, Evy.« Endlich schaute er mich an, und um die erweiterten Pupillen war wieder etwas von der blauen Farbe zu erkennen. »Nie zuvor habe ich mich rein instinktiv derart geekelt. Ich konnte nicht mehr atmen da oben. Es war überall, in meinen Lungen, in meinen Augen und in meinen Ohren. Widerlich.«
»Gremlins bleiben gern unter sich«, erklärte ich, während mein Sympathiebarometer zunehmend in seine Richtung ausschlug. »Vielleicht gibt es dafür einen guten Grund.«
»Vielleicht.« Er verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Vom Ende eures Gesprächs habe ich nichts mehr mitgekriegt. Was habt ihr ausgehandelt?«
»Ich bekomme die Passwörter morgen früh bei Sonnenaufgang. Allerdings habe ich ihnen zu viel dafür bezahlt, deshalb schulden sie uns einen weiteren Gefallen.« Das konnte sich als günstig erweisen.
»Morgen früh? Was willst du bis dahin tun?«
Ich erhob mich und hielt ihm die Hand hin. Offenbar war er jedoch zu stolz, um sich von einem Mädchen helfen zu lassen, weshalb er alleine aufstand. Seine Haut hatte noch mehr Farbe zurückgewonnen – vermutlich war der Farbverlust der Nebeneffekt seiner allergischen Reaktion, wenn es denn eine gewesen war. Wieder ein Detail über Werwesen, das mir bisher unbekannt
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