Die Rache der Jagerin
gewesen war.
»Ich sollte im Krankenhaus vorbeischauen«, meinte ich. »Und danach sehen wir kurz in der Wohnung nach, wie es Aurora und Joseph geht. Außerdem sollte ich meinen derzeitigen Plan etwas verfeinern, damit ich mich nicht so aufs Geratewohl hineinstürze.«
»Am Improvisieren gibt es nichts auszusetzen«, hielt Phin dagegen.
»Wenn dabei so viele Leben auf dem Spiel stehen, schon.«
»Stimmt. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass du genau das machen wirst.«
Ich ging zum Wagen. Obwohl ich bald etwas erfahren würde, hatte ich den Eindruck, den Besuch in der Fabrik umsonst gemacht zu haben. Schließlich brauchte ich die Informationen jetzt und nicht erst morgen früh. Ich hatte nicht viel Zeit. So weit nichts Neues. Und auch die Tatsache, dass mehr als nur mein eigenes Leben davon abhing, kam mir sehr vertraut vor. War das hier etwa eines dieser Déjà-vu-Erlebnisse? Ich hatte keinen Schimmer, wie ich das Unmögliche bewerkstelligen sollte. Alles, was ich wusste, war, dass ich es tun musste. Und zwar schnell.
Vor zehn Tagen noch war ich voll auf dem Laufenden gewesen, was die von Dregs bevölkerte Unterwelt der Stadt betraf. Ich hatte sämtliche Akteure und Gruppierungen gekannt und gewusst, wie man ihnen am besten dazwischenfunkte. Innerhalb von Stunden hatte ich denjenigen aufgetrieben, den ich verhören musste, hatte ihm die Wahrheit aus dem Leib geprügelt, war nach Hause gegangen und hatte mich ausgeschlafen. Dann waren meine Freunde ermordet worden. Man hatte mich entführt, gefoltert und getötet, und als ich in einem fremden Körper wiederauferstanden war, hatte mein Leben plötzlich kopfgestanden. Und als ich nun gerade gedacht hatte, das Gröbste wäre überstanden, fing die Kacke wieder an zu dampfen.
Meine beiden wichtigsten Informanten waren inzwischen unerreichbar. Max, der einzige Gargoyle, der mir jemals eine Audienz gewährt hatte, hatte angekündigt, dass er die Stadt verlassen würde, bevor die Scheiße endgültig über uns hereinbrach. Und mit Smedge hatte ich nicht mehr gesprochen, seit mich der obdachlose Brückentroll (oder vielmehr: Wächter der Erde) vor zwei Tagen in der Ersten Kluft ausgespien hatte. Seine Bleibe unter der Lincoln Street Bridge war mit einer Teerschicht versiegelt worden. Jetzt hatte ich keine Ahnung, wo er steckte.
Über den mit Grasbüscheln übersäten Parkplatz der alten Fabrik hinweg sah ich zu den Lagerhallen, den Hochhäusern mit Sozialwohnungen und den zur Hälfte leerstehenden Einkaufszentren, die eine Art Skyline bildeten. Hier, inmitten der Ruinen eines vormals florierenden Stadtteils, befand sich das Herz von Mercy’s Lot, das nun Verzweifelte, Obdachlose und Außenseiter beherbergte – sowohl Menschen als auch Dregs. Dieses Viertel kannte ich, und früher hatte dieses Viertel Evy Stone gekannt.
Mein neues Ich war hier allerdings unbekannt. Dennoch wusste ich, an wen ich mich wenden musste, um Antworten herauszukitzeln.
»Was denkst du?«, fragte Phin, nachdem wir ins Auto gestiegen waren.
»Ich denke darüber nach, mich in der Nachbarschaft mal vorzustellen.«
Als er den Zündschlüssel drehte, heulte der Motor auf. »Hört sich so an, als würde dir bereits ein bestimmter Ort als Ausgangspunkt vorschweben.«
»Na ja, heute Morgen hat ein Halbvamp versucht, mich zu töten. Das ist doch kein schlechter Ansatz.«
»Also, wohin jetzt?«
»Zurück zur Banks Street. Da biegst du links ab und fährst geradeaus über sechs Querstraßen, bis wir Mike’s Gym erreichen.«
»Und was ist da außer einem Fitnessstudio?«
Ich lächelte. »Das wirst du schon sehen.«
»Wenn du so grinst, wird es gruselig.«
Darauf wurde mein Grinsen nur breiter. Wurde schließlich Zeit, dass er sich einmal unwohl fühlte. Ich lehnte mich zurück und freute mich auf unser Ziel und die zwielichtigen Gestalten, die dort auf uns warteten. Bei der Beschaffung von Informationen könnte ich meinen angestauten Stress bewältigen. Ich ließ meine Fingergelenke knacken. Das war das Schönste an meinem Job.
7. Kapitel
11:53 Uhr
M ike’s Gym war kein Ort, an dem Amateurboxer nach einem Trainer suchten und Halbstarke ihre Muskeln aufbauten. Der Laden stand auch nicht im Branchenbuch, und wenige verließen das Gebäude durch die Hintertür, ohne etwas von ihrem Blut zurückzulassen. Und das nicht nur wegen der Halbvamps, die hier herumhingen.
Phin stellte den Wagen eine Querstraße weiter ab. Sein kleines verrostetes Auto fügte sich perfekt ins Bild ein: Den anderen
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