Die Rache der Jagerin
konzentrierte mich auf all die Dinge in mir, die mir fremd vorkamen – all die Erinnerungen und Empfindungen, die eindeutig zu Chalice gehörten. Alles, was ich über Alex erhaschen konnte. Mich durchströmte eine Flut von Gefühlen, die zugleich warm und eisig war. Ruhige Fernsehabende auf dem Sofa, Scherze und Gelächter, Einsamkeit, kumpelhaftes Miteinander. Gefühle, die nicht mit einer bestimmten Erinnerung verbunden waren. Aber keine Namen. Und kein Hinweis darauf, ob Chalice Alex’ Vater jemals getroffen hatte.
Der Wagen hielt an. Phin hatte gegenüber vom Wohnhaus geparkt. Ich hatte keine Ahnung, was mich da oben erwarten würde und ob dieser Mann Chalice überhaupt erkennen würde.
»Lass mich reden«, sagte ich, als wir aus dem Auto stiegen. »Kann sein, dass ich ein wenig improvisieren muss.«
»Und welche Rolle übernehme ich bei dem Ganzen?«, fragte Phin.
Mir schwirrten ein halbes Dutzend Ideen durch den Kopf. Die lösten sich jedoch alle in Luft auf, als ich ihn ohne Hemd auf dem Gehweg stehen sah. »Vielleicht solltest du besser beim Wagen warten.«
Er blinzelte. »Warum?«
»Hast du ein Hemd im Kofferraum?«
»Nein.«
»Darum.«
Er kniff die Augen zusammen. »Evy …«
»Ich komm schon klar, und ich sorge dafür, dass es Joseph und Aurora ebenfalls gutgeht.«
Er schaute zu den Fensterreihen auf der anderen Straßenseite. Meine Wohnung ging zur Straße auf der Rückseite des Hauses hinaus, aber ich begriff, was der Blick sollte. Es war der Versuch, eine unbekannte Situation vorauszusehen. Allein schon die Vorstellung einer geliebten Person mit einem Lächeln im Gesicht konnte die Sorgen verscheuchen. Er stellte sich wieder neben das Auto.
Ich lächelte ihn an, doch er erwiderte die Nettigkeit nicht. Also lief ich los und überquerte die Straße. Während der Fahrt im Aufzug und während ich anschließend den Flur entlangging, überlegte ich, was ich dem Mann sagen sollte. Schließlich war er mir völlig fremd, und ich hatte keine Ahnung, ob er das Gesicht und die Gestalt, die jetzt mir gehörten, überhaupt erkennen würde oder nicht. Mir wollte nichts Passendes einfallen. Ich würde auf mein Bauchgefühl vertrauen müssen.
Die Tür war nicht abgeschlossen, und ich betrat die Wohnung mit der nötigen Selbstverständlichkeit. Drinnen war es ruhig. Im Wohnzimmer saßen drei Leute. Aurora und Joseph hockten eng beieinander auf dem Sofa. Trotz seiner Gebrechlichkeit hielt Joseph sich kerzengerade und zog die Schultern nach hinten – wie ein alter Raubvogel, der noch immer mutig genug war, um sich auf jeden zu stürzen, der seinen Schützling bedrohte. In dem Moment, in dem ich eintrat, schnellte Auroras Kopf zu mir herum. Beschützend legte sie die Hände auf ihren Bauch. Sie schaute an mir vorbei, als erwartete sie außer mir noch jemanden. Als sie jedoch merkte, dass ich allein war, runzelte sie die Stirn.
Die dritte Person hatte auf dem Polsterstuhl neben dem Sofa Platz genommen. Nun stand der Mann auf und wandte sich mir zu, wobei er die Hände in die breiten Hüften stemmte. Er war klein, rundlich und mittleren Alters. Das graue Haar verlief in einem schmalen Kranz um seinen ansonsten kahlen Schädel. Die Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht, doch er schob sie nicht zurück. Bis auf die Augen unterschied er sich in absolut allem von Alex.
»Wird langsam Zeit, dass einer von euch mal auftaucht«, sagte er mit der Stimme eines langjährigen Rauchers, rauh wie Schmirgelpapier und tief wie eine Basstrommel.
»Ich habe gearbeitet«, gab ich zurück. Also kannte er Chalice. Gut. Seinem vorwurfsvollen Ton nach zu urteilen, mochte er sie allerdings nicht sonderlich. »Was wollen Sie?«
Mit dem Daumen deutete er auf die Mülltüten, die am anderen Ende des Raums hingen. »Was zur Hölle ist mit eurer Balkontür passiert?«
»Ein Unfall.« Mir wäre es im Traum nicht einfallen, ihm zu erzählen, dass die Tür von zwei Triadenjägern zertrümmert worden war, die mich in dieser Wohnung aufgespürt hatten und denen Alex und ich ordentlich eingeheizt hatten. »Was wollen Sie?«
»Ich will mit meinem Sohn reden. Deshalb bin ich den ganzen Weg hergefahren.« Er griff nach einem Handy auf dem Couchtisch. »Er hat sein Telefon hier liegen lassen. Deshalb hat er die sechs Nachrichten nicht erhalten, die ich ihm auf die Mailbox gesprochen habe. Wo ist er, verdammt noch mal?«
Jetzt kam der Sprung ins kalte Wasser. »Ich weiß es nicht.«
Er zog zwei schlanke graue Augenbrauen nach oben.
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