Die Rache der Jagerin
Deckenlicht ein, schnallte sich ab und griff nach hinten auf den Rücksitz. Danach holte er eine große, abgenutzte und schmutzige Kiste für Angelzeug hervor. »Du solltest wirklich in …«
»Nicht ins Krankenhaus. Nicht wegen dem Kratzer.«
»Diese Kratzer könnten sich entzünden.« Er öffnete die Kiste und kramte darin herum.
»Das tun sie nicht.« Ich schluckte und hatte plötzlich Durst. »Leo, was hast du dort gemacht?«
»Du hast mir gesagt, dass ich aus der Wohnung verschwinden sollte, also habe ich das getan. Aber ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Irgendwie habe ich auch gehofft, Alex würde auftauchen, und deshalb habe ich gewartet.« Er legte einen Stoffverband und eine Rolle Heftpflaster auf den freien Sitz in der Mitte. Dann schaute er zu mir auf. Ihm war die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. »Ich habe gesehen, wie deine Freunde mit drei anderen Leuten herausgekommen sind. Das Mädchen wirkte verängstigt. Da ich wusste, dass du noch da warst, bin ich hochgegangen.«
»Du hast mir das Leben gerettet.«
Er zuckte mit den Schultern und kramte erneut in der Kiste. Bald fügte er dem Häufchen eine Schere, Verbandmull, Watte und Desinfektionsmittel hinzu, bevor er den Deckel zuklappte und die Kiste auf den Boden stellte.
»Willst du denn nicht wissen …?«
»Um Himmels willen, nein.« Er schüttelte den Kopf so heftig, dass ihm das Drahtbrillengestell auf die Nasenspitze rutschte. »Denn wenn ich mich auch nur mit dem Gedanken beschäftige, dass ich tatsächlich gesehen habe, was ich gesehen habe, brauche ich ein Bier. Und danach brauche ich noch ein Bier und danach fünf weitere. Damit würde ich zum ersten Mal in sechs Jahren rückfällig werden. Deshalb habe ich lieber nicht gesehen, was ich gesehen habe.«
Das war einzusehen.
»Zieh dein Hemd aus«, forderte er mich auf.
Es war nicht einfach – die Wunde tat jedes Mal höllisch weh, sobald ich die Schultern hob –, aber irgendwann hatten wir das Hemd mit vereinten Kräften ausgezogen. Ich drehte mich zum Fenster und beobachtete Leos Spiegelbild in der Scheibe. Gerade tränkte er einen Wattebausch mit Desinfektionsmittel. Ich schloss die Augen, faltete verkrampft die Hände und biss die Zähen zusammen, bis die schmerzhafte Säuberung abgeschlossen war und er den Verbandmull auf die Wunde klebte.
»Besser krieg ich es nicht hin, aber eigentlich müssten die Wunden genäht werden«, meinte er.
»Die heilen schon von alleine. Kannst du mir meine Tasche geben?«
Er fischte sie vom Rücksitz und stellte sie auf den freien Platz neben mich. Ich wühlte darin nach einem frischen Hemd und zog es mit Leos Hilfe über. Der Schmerz war zwar nicht verschwunden, hatte jedoch etwas nachgelassen. Genauso war es mit dem Brechreiz. Begierig wartete ich auf das vertraute Jucken, wenn sich die Wunde allmählich schloss. Zu meinen Füßen lag sein ruiniertes, blutverschmiertes Jackett.
»Danke für alles«, sagte ich.
»Du steckst in einer üblen Klemme, was?«
»Jedenfalls ist es keine gute Klemme.«
»Saß Alex auch in der Klemme?«
Ich wandte mich ihm zu. Er hatte das gerahmte Foto aus meiner Tasche gezogen und hielt es verkrampft in der Hand. Er sah so traurig aus, dass ich ihm die Wahrheit am liebsten auf der Stelle gesagt hätte. Aber ich tat es nicht. Wenn er schon beim Gedanken daran, zwei Gestaltwandler gesehen zu haben, rückfällig werden würde, dann würde ihn die Wahrheit über Alex erst recht aus der Bahn werfen. »Alex hat damit nichts zu tun«, erwiderte ich, um möglichst nahe bei der Wahrheit zu bleiben. »Wie lange lebst du schon in deinem Wagen?«
»Ungefähr vier Monate.« Noch immer sprach er zu dem Foto. »Alex weiß nichts davon.«
»Warum nicht?«
»Alex und ich, wir haben miteinander geredet und versucht, alles zu regeln. Aber zuerst habe ich den Job verloren, den er mir beschafft hat, und dann bin ich aus der Wohnung geflogen. Ich habe mich zu sehr geschämt, um es ihm zu erzählen. Deshalb habe ich so lange gebraucht, um hierherzukommen. Musste erst etwas Kohle für das Benzin beschaffen.«
»Das hätte er bestimmt verstanden.«
Leo schüttelte den Kopf und steckte das Foto wieder in meine Tasche. »Nein, das hätte er nicht verstanden. Ich bin ein Trottel, weil ich mir einbilde, er könnte mir noch einmal verzeihen.«
»Vielleicht hätte er dich überrascht.« Vergebung ist eine heikle Sache – was ich in vielen Lektionen auf die harte Tour hatte lernen müssen. Wenn es darum ging, sich selbst zu
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