Die Rache der Kinder
ziehe das Radio vor, denn so habe sie genügend Zeit für ihren anderen Job als Sozialarbeiterin im Knast. Sie macht das ehrenamtlich, bekommt also kein Geld dafür, aber sie hört sich die Sorgen und Nöte dieser Leute an und schenkt ihnen so etwas wie Freundschaft. Ich bin sehr stolz auf sie – auch wenn sie behauptet, dass ihre guten Taten etwas Laszives hätten. Sie hat mir erzählt, dass sie eine sexuelle Erregung verspüre, wenn die Gefängnistore sich hinter ihr schließen und sie frei durch diese schrecklichen Orte gehen kann. Doch nichts, so sagt sie, sei auch nur annähernd mit der Erregung vergleichbar, die sie bei den Spielen empfinde, die wir noch immer spielen.
Simon ist Aushilfslehrerin an einer Grundschule in Oxford, was gut zu ihrer sanften und freundlichen Natur passt. Sie möchte anders sein als andere – so wie ich, hat sie einmal zu mir gesagt, und das hat mich unglaublich stolz gemacht –, aber sie neigt noch immer zu Depressionen. Wie Roger und Piggy ist auch Simon immer noch Single. Vor langer Zeit hat sie mir einmal anvertraut,dass Roger ihr erzählt habe, Piggy sei in sie verliebt, weshalb unser Mädchen besonders sanft zu ihm ist, denn sie kann seine Liebe nicht erwidern. Ich glaube, sie hat Angst vor Intimitäten, vor allem vor einer möglichen Schwangerschaft, da sie fürchtet, eine schlechte Mutter zu sein. Das macht mich sehr traurig. Ich glaube nämlich, dass Simon eine wunderbare Mutter wäre.
Piggy ist Ingenieur bei der British Telecom in Swindon, und er ist ziemlich gut in seinem Job, was allerdings auch nichts an seinem Minderwertigkeitskomplex ändert. Ich nehme an, Letzteres ist einer der Gründe dafür, warum er keinen Kontakt zu seiner Schwester aufnimmt. Sie sei besser ohne ihn dran, habe ich ihn einmal sagen hören, und das hat mich traurig gemacht. Es stimmt, dass er in Simon verliebt ist, und er ist sich durchaus bewusst, dass sie nicht genauso empfindet. Von allen meinen Kindern, glaube ich, dass Piggy sein Leben verändern könnte, wenn er das Glück hätte, eine gute Frau zu finden, und sich auf die Beziehung einlassen würde. Doch das könnte ihm nur gelingen, würde er uns andere hinter sich lassen. Das aber wird in absehbarer Zukunft nicht geschehen, da er die Gruppe noch genauso sehr braucht wie eh und je.
Jack ist in gewisser Weise der Geradlinigste. Er lebt in Newbury, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Zu dem Jungen und dem Mädchen ist er freundlich, doch schrecklich zu seiner armen Frau, sagt er (sogar grausam, glaube ich). Er verdient gut als Einbrecher und gibt das meiste Geld bei den Buchmachern aus. Jack zeigt nicht die geringste Scham, dass er das Stehlen zu seinem Beruf gemacht hat. Tatsächlich scheint er sich den Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, sogar überlegen zu fühlen; ein schlechtes Gewissen kennt er nicht. Wenn die Leute dumm genug sind, ihn in ihre Häuser eindringen zu lassen, sagt er, hättensie es nicht besser verdient. Er behauptet, er könne der Gruppe jederzeit den Rücken zukehren. Ich glaube das nicht. Ich denke, es gefällt ihm, dass die anderen ihn als »harten Kerl« brauchen.
Ich brauche sie alle. Das habe ich schon vor langer Zeit akzeptiert. Meine Beziehung zu ihnen zu analysieren ist mir nie leicht-gefallen. Meine Gefühle für Jack sind wohl am schwersten in Einklang zu bringen mit dem, wovon ich früher gehofft habe, es sei meine grundsätzliche Anständigkeit. Jack ist von meinen Kindern dasjenige, das man am ehesten als »schlecht« bezeichnen kann, doch wir lieben ihn alle. Ich jedenfalls liebe ihn.
Und eines ist klar: Wenn Jack schlecht ist, bin ich schlimmer.
Trotz Rose Miller blieb ihr Leben erfüllt. Ralph hatte stets Möglichkeiten gefunden, Geld zu verdienen. Sie hatte sich sogar in der Telefonseelsorge versucht und geglaubt, einer Handvoll Menschen geholfen zu haben; doch in all den Jahren war der Höhepunkt ihres Lebens die Führerschaft der Gruppe geblieben.
Die sich entwickelnden Spiele widerten sie im gleichen Maße an, wie sie sie erregten. Die Spiele fanden nun unregelmäßig statt, doch das machte ihre Anziehungskraft nur noch größer.
Was in Unschuld begonnen hatte, hatte sich längst zum Bösen verändert.
Und dafür war vor allem Ralph verantwortlich.
Hätte sie sich je einem Therapeuten anvertraut, hätte der ihr gesagt, sie solle sofort aufhören – das wusste Ralph.
Die Wahrheit war nur: Sollte irgendjemand jetzt noch versuchen, sie von ihren Kindern zu trennen,
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