Die Rache der Liebe
riesenhaften Wikingers, der den Wagen zog, noch verstärkt, da weit und breit nichts von ihrem Bruder zu sehen war.
Auch Erika, die hinter ihr stand, geriet nun aus der Fassung und fragte ihren Getreuen barsch: »Was soll das, Turgeis?«
Kristen wartete die Antwort nicht ab. Das Ende des Wagens war nun bei ihr angekommen, und sie sprang hinauf und zerrte die grobe Plane, die sich über das halbe Gefährt spannte, zurück. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, denn sie fürchtete, nun gleich den Leichnam ihres Bruders vorzufinden. Was sie sah, war beinahe genauso schlimm.
Selig hatte so viel Gewicht verloren, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Die Hand, die sie ergriff, erwiderte ihren sanften Druck nicht. Er hatte die Ansätze eines Bartes, ein männliches Attribut, dessen er nie bedurft hatte. Sein Haar klebte verfilzt an seinem Schädel, seine Haut war fahl und bleich, seine Augen eingesunken. Sie standen offen, und Kristen las die Erleichterung darin, aber auch den Schmerz - und die Wut.
Er hob zu reden an, brachte aber nur ein Wispern hervor, so dass sie sich zu ihm herunterbeugen muss te. »Nimm sie für mich.«
»Die dänische Lady?«
Er nickte mühsam. »Ihr habe ich all das zu verdanken, und dafür gehört sie mir. «
Kristen brauchte nichts weiter zu hören. Sie konnte selbst sehen, dass sie ihn förmlich ausgehungert hatten, ihn gebrochen hatten. Seit damals, als sie ihn tot gewähnt hatte, vor ihren eigenen Augen erstochen, hatte sie niemals mehr einen so ungeheuren Zorn verspürt. Dieser Zorn war so übermächtig, dass sie weder ihre gefährliche Situation bedachte noch die Folgen, die seine Bitte nach sich ziehen könnte. Nichts zählte mehr außer den Worten: Ihr habe ich all das zu verdanken, und dafür gehört sie mir.
Sie hob den Kopf und sah, dass der Riese die Zügel weggelegt hatte und Anstalten machte, vom Wagen zu springen, um seiner Lady zur Seite zu stehen. Kristen war schneller, ihr Sprung kam so schnell und unerwartet, dass niemand Zeit hatte, zu reagieren - am wenigsten Erika, die plötzlich den Wikinger-Dolch mit der langen Klinge an ihrem Hals und einen stählernen Griff um ihre Taille fühlte, so dass sie gar nicht erst den Versuch wagte, sich zu befreien.
11
Kristen hielt die dänische Frau eng an sich gepresst , wodurch freilich ihr Rücken ungeschützt dem Festungswall und den unsichtbar dahinter lauernden Bogenschützen ausgesetzt war. Doch im Augenblick sorgte sich Kristen mehr um das, was sich vor ihr abspielte. Vor allem der Riese Turgeis, der sie mehr als einen Fuß überragte, war ihr ein Dorn im Auge, zumal er für ihr Empfinden einfach zu nah stand.
»Geh zurück! « wies sie ihn an, in Richtung des Tores nickend .
Er rührte sich nicht vom Fleck. »Ich kann nicht zulassen, dass du meiner Lady Schaden zufügst. « Seine Stimme klang wie ein tiefes Grollen, war jedoch völlig ruhig.
Kristens Augen blitzten vor Wut. »Wenn du mir zu nah kommst, schneide ich ihr die Kehle durch! «
Erika erstarrte, als sich die Klinge noch fester gegen ihre Kehle preßte und sie dann spürte, wie ein Blutstropfen ihren Hals hinunterlief. Doch mehr als das Blut versetzte sie die kalte Entschlossenheit, die sie bei Kristen wahrnahm, in einen Zustand höchsten Alarms. »Tu, was sie sagt, Turgeis! « flehte Erika ihn an.
Er kam der Aufforderung nach, aber nicht rasch genug, um Kristen zufriedenzustellen. Es missfiel ihr, dass Selig all den Bogenschützen auf den Mauern ungeschützt ausgeliefert war, und der Riese befand sich näher bei ihm als sie, könnte binnen eines Lidschlags den Spieß umdrehen und ihren Bruder bedrohen.
»Weg vom Wagen! « schrie sie ihn an.
»Was geht hier vor, Kristen?«
Das war Thorolfs Stimme. Er war mit Ivarr an den Wagen gekommen. Ohne Turgeis aus den Augen zu lassen, erklärte Kristen den beiden Männern: »Sie haben Selig so miss handelt, dass er halbtot ist. « Die beiden lenkten ihre Pferde zum Ende des Wagens, um sich selbst zu überzeugen. Gleich darauf hörte man Thorolf aufkeuchen und Ivarr fluchen.
Nun meldete sich Turgeis zu Wort, um gegen Kristens Anschuldigung Einspruch zu erheben. »Nay, Lady, er war schon verwundet, als er hier anka m .«
»Er sagt, sie ist für seinen Zustand verantwortlich«, gab Kristen barsch zurück. »Und ich glaube eher meinem Bruder als dir!«
Doch Turgeis gab nicht so leicht auf. »Er war nicht bei Sinnen, von Fieberträumen geplagt. Er hatte eine Verletzung am Kopf. Meine Lady wußte nichts davon.«
Kristen
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