Die Rache der Liebe
ob es sich bei dem Gefangenen tatsächlich um deinen Bruder handelt und nicht um einen Fremden, der sich lediglich als dein Bruder ausgibt.«
»Selig ist der bestaussehendste Mann, den du dir vorstellen kannst.« Als Erika errötete, fügte Kristen hinzu: »Aye, du hast den Richtigen.«
»Aber er sieht nicht aus wie ein Wikinger«, wandte Erika ein. »Eher wie ein ... «
»Unsere Mutter ist walisische Keltin«, antwortete Kristen zerstreut, da sie nun auf das geöffnete Tor blickte, in dem bald jener Riese namens Turgeis Zehn Fuß mit Selig auftauchen würde. »Er schlägt nach ihr, außer in der Größe, die wir beide von unserem Vater haben. «
»Verstehe«, sagte Erika, obwohl sie nichts verstand und auch nicht sonderlich daran interessiert war. Sie hatte nicht erwartet, dass eine Armee zur Abholung des Wikingers auftauchen würde, aber jetzt stand eine vor ihren Toren, und Erika wollte sie so schnell wie möglich wieder loswerden. Zudem fühlte sie sich in Gegenwart der anderen Frau unbehaglich, kam sich, gemessen an deren Größe und muskulösem Körperbau schwächlich vor, obwohl sie gar nicht so sehr viel kleiner war.
Aber nichts davon zeigte sie in ihrem Verhalten. Ihr Rang verlieh ihr die nötige Sicherheit, wie auch die Tatsache, dass ihre eigene Armee in direkter Rufweite war. Da Ragnar ein großes Gefolge mitgenommen hatte, besaß sie nicht so viele Männer wie die anderen, aber der große Unterschied war der, dass diese norwegischen Wikinger und Angelsachsen das nicht wussten . Und wenn sie erstmals ihren Gefangenen hätten, gäbe es für sie keinen Grund, noch länger zu bleiben.
Zur selben Zeit betrat Turgeis das Verlies, in dem Selig in den vergangenen Tagen die Qualen der Hölle erlitten hatte. Energisch rüttelte er Selig wach und sagte: »Dein Fieber ist dank der Purgantia vorbei, und vor den Toren wartet deine Schwester. Kannst du gehen, oder soll ich dich zu ihr tragen?«
Mit zusammengekniffenen Augen schaute Selig in das Gesicht des über ihn gebeugten Turgeis, das ihm aus seinen Alpträumen vertraut war. »Du schon wieder? Nein, du kannst mich nicht tragen.« Er bemerkte das völlig sachlich, da er der festen Überzeugung war, kein Mann könne stark genug sein, ihn zu tragen. »Aber du kannst mir deine Hand geben und mir aufhelfen.«
Er wurde viel zu rasch nach oben gezogen. Turgeis muss te ihn festhalten, damit er nicht vornüber fiel.
» Lass mir etwas Zeit«, verlangte Selig. Er verfluchte die Schwäche, die noch immer in ihm steckte und sogar schlimmer war als zuvor.
»Ich habe keine Zeit«, erwiderte Turgeis. »Ich will meine Lady nicht länger mit deinen Leuten allein lassen.«
Die Erwähnung der Lady rief Selig schlagartig die Erinnerung an sie, an seinen schlimmsten Alptraum, wieder ins Gedächtnis und damit auch an die hilflose Wut, die er empfunden hatte. »Sie werden ihr nichts antun«, sagte er. Das würden sie nicht wagen. Dieses Recht war einzig ihm vorbehalten.
Ungeduldig schritt Kristen auf und ab. Obwohl man es ihr nicht ansah, war sie dennoch erschöpft. Vorletzte Nacht, als das Gerücht nach Wyndhurst gedrungen war, hatte sie kaum geschlafen und letzte Nacht gar nicht, da sie ohne Pause durchgeritten war. Das war nicht unbedingt klug gewesen, überlegte sie nun. Ihre Männer waren zwar nicht ganz so müde wie sie, aber auch nicht in ihrer besten Verfassung. Aber sie hätte nicht anders handeln können, nicht, wenn die Freiheit ihres Bruders auf dem Spiel stand.
Erika stand mit verschränkten Armen da und wirkte völlig gefasst , wenngleich auch sie sich langsam zu sorgen begann, weshalb Turgeis so lange brauchte. Wollte der verfluchte Gefangene etwa nicht in die Freiheit entlassen werden? Fürchtete er gar, seine Lügen könnten nun aufgedeckt werden? Schließlich gab es noch mehr gutaussehende Männer. Das traf nicht allein auf ihn zu. Und dieses eine Merkmal reichte im Grunde für die Beschreibung des Mannes nicht aus, genausowenig wie die Aussage, er sehe keltisch aus.
Keine der beiden Frauen war jedoch auf den Lastenkarren vorbereitet, der langsam durch das Tor rumpelte und Erikas vier Männer, die den Weg versperrten, nach beiden Seiten hin abdrängte. Auch Kristen war gezwungen, beiseite zu springen, als das lange Gefährt auf sie zurollte, was zur Folge hatte, dass sich nun ihr Pferd nebst Schwert auf der anderen Seite befanden. Doch Kristen bemerkte das gar nicht. Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen, und ihr Argwohn wurde beim Anblick des
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