Die Rache der Medica (Die Medica-Reihe) (German Edition)
und bei ihrem Anblick zur Salzsäule erstarrt. Beide waren sie überrascht und erschrocken über die unerwartete Begegnung, Anna bewegte sich ebenso wenig wie das Reh. Es war wie ein Zauber, der drei Atemzüge lang anhielt, Anna sah fasziniert die Atemwölkchen aus den Nüstern des Tiers dampfen. Bis das Reh ruckartig kehrtmachte und schnurstracks im Dickicht verschwand.
Beim Gedanken an dieses seltsame Zusammentreffen musste Anna unwillkürlich lächeln. Die Luft war frisch und kühl, der Horizont weit, weit weg, Nebel lag über den Talsenken, der Himmel über ihr spannte sich wie ein makelloses blassblaues Seidentuch, die letzten Sterne erloschen am Firmament. Ganz oben kreiste ein Wanderfalke, man konnte seinen hohen, schrillen Greifvogelschrei hören. Das war das einzige Geräusch weit und breit. Sie beneidete den Vogel um seine Schwerelosigkeit, seine Freiheit. Er war für nichts verantwortlich, kannte kein Mitleid. So weit seine Augen reichten und seine Flügel ihn trugen, war sein Jagdrevier. Er schwebte über seiner Welt.
Anna war so leicht ums Herz, als müsste sie barfuß im feuchten Gras anfangen zu tanzen. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, wo neben dem vierrädrigen Karren die zwei angepflockten Zugpferde friedlich grasten. Gleich daneben, im Schutz eines Felsens, hatte sie die Nacht am Lagerfeuer mit ihrem Liebsten verbracht. Chassim von Greifenklau schlief dort noch friedlich unter seiner Decke.
Sie waren zwei Tage zuvor mit dem Gefährt, das Chassim benutzen musste, da er mit seinem verletzten Bein noch nicht reiten konnte, bei bestem Herbstwetter von Burg Greifenklau aufgebrochen. Chassim brannte darauf, Anna die Grafschaft seines Vaters zu zeigen, ihre zukünftige Heimat.
Im strahlenden Licht der noch spätsommerlich warmen Sonne ging die Fahrt durch hügelige Laubwälder, die Blätter der Bäume schillerten in den schönsten Rot-, Braun- und Goldtönen, weiter durch abgeerntete Felder und kleine Dörfer, deren Bewohner beim Anblick des jungen Grafen sich die Hüte vom Kopf rissen und sich verbeugten, während Chassim und Anna fröhlich winkten. Mitten in den Ortschaften stieg Chassim dann mit Annas Hilfe vom Kutschbock, hielt ein kleines Schwätzchen mit dem Dorfschulzen und fand für jeden, der neugierig herangelaufen kam, ein freundliches Wort. Anna staunte, wie beliebt Chassim überall war, wie schnell die Menschen ihre Befangenheit und Scheu ablegten und auftauten, wenn er mit ihnen sprach. Der junge Graf von Greifenklau traf immer den richtigen Ton, hörte gewissenhaft auf ihre Sorgen und Nöte und versprach, sich darum zu kümmern.
Am Abend hatten sie ein geschütztes, ruhiges Plätzchen gefunden, von dem aus man in die Täler Richtung Osten blicken konnte, weit über die Grafschaft Greifenklau hinaus. Dort hatten sie ihr Nachtlager aufgeschlagen und ihre Essensvorräte ausgepackt. Der Tag war vollkommen gewesen, die Nacht ebenso.
In seliger Erinnerung daran drehte sich Anna spielerisch um die eigene Achse, wie ein kleines Mädchen, das selbstvergessen und ein Lied summend die Sonnwendfeier beging – obwohl das Jahr zur Neige ging und jetzt, in den frühen Morgenstunden, der kalte Hauch des Winters schon zu ahnen war. Aber dann zog es sie doch wieder an den Schlafplatz zurück. Schnell schlüpfte sie zu Chassim unter die warme Decke und kuschelte sich eng an ihn. Sein rechtes Bein war immer noch in dem Gipsverband, den sie ihm nach seinem schweren Turnierunfall angelegt hatte. Es war ein gewagtes Experiment gewesen, mit einem Material, das normalerweise von den Steinmetzen beim Kirchenbau in Oppenheim verarbeitet wurde, sie hatte erstmals von seiner Anwendung bei Knochenbrüchen von ihrem jüdischen Lehrmeister Aaron gehört. Der Medicus hatte sie, nach ihrer Verbannung aus dem Kloster, bei sich aufgenommen, sie weiter ausgebildet und ihr Heilmethoden beigebracht, von denen sie noch nie gehört hatte. Sie widersprachen sämtlichen bisher in der Heilkunst gängigen Vorgehensweisen und dem, was Anna als langjährige Famula des Infirmarius von Kloster Heisterbach gelernt hatte.
Anna wollte eine Medica sein, die sich nicht darum scherte, was üblich war und von alters her angewendet wurde, sondern die sich mit allem befasste, was die Heilkunst voranbrachte und kranken oder verletzten Menschen weiterhalf, so wie es ihr Medicus Aaron beigebracht hatte. Das war ihre Bestimmung, das hatte ihr der Medicus beim Abschied selbst gesagt. Und Anna wusste inzwischen, dass er recht gehabt
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