Die Rache der Medica (Die Medica-Reihe) (German Edition)
zahlreichen Pilger bei. Anschließend gehst du in den Beichtstuhl auf der rechten Seite in der Seitenkapelle neben dem Altar. Dort wirst du die Dispens und den Segen Seiner Eminenz empfangen. Und deinen weltlichen Lohn.«
Pater Severin erhob sich. Jeronimus verstand, dass die Audienz damit beendet war. Er stand ebenfalls auf. »Jetzt gleich?«
»Ja, jetzt gleich, mein Sohn.«
Jeronimus blickte auf das Röhrchen, das er immer noch in seiner linken Hand hielt.
»Niemand wird es merken, wenn du es geschickt anstellst. Die Substanz ist geschmacks- und geruchlos.«
Jeronimus nickte und steckte das Röhrchen in die eingenähte Tasche seines Wollmantels, wo er auch seine Barschaft für die Einkäufe verwahrte. Dann setzte er seine Mütze auf.
Pater Severin zog an einem bestickten Band, an dem eine Kordel hing. Es diente dazu, den Hausdiener zu rufen. Dann sprach er die Segensformel für Jeronimus, schlug ein Kreuz und verabschiedete ihn. »Geh mit Gott.«
Der Hausdiener kam herein und geleitete Jeronimus hinaus.
Pater Severin wartete reglos, bis die Tür geschlossen wurde.
VI
A nna und Bruder Thomas standen ganz hinten im kalten, düsteren Dom und folgten der heiligen Messe. Das Kirchenschiff war voller Pilger, die einem der jüngeren Domherren zugewandt waren, der mit Messdienern zelebrierte. Im Hintergrund, kaum sichtbar im Dunkel der Apsis, so dass es klang wie ein himmlischer Chor aus reinen Engelsstimmen, ertönte der auf- und abschwellende gregorianische Choral des Novizenchors. Wenn man die Augen schloss, konnte man einen Hauch von göttlicher Spiritualität ahnen. Nicht, weil man die Worte und Litaneien verstand oder wegen der Weihrauchschwaden, die die Gläubigen umwaberten, sondern weil man die Manifestation und die Stärke des kollektiven Glaubens verspürte, der Trost und Zuversicht schenkte.
Diesen Zustand konnte Anna intellektuell nachvollziehen. Sie wusste, dass Bruder Thomas, so sehr er manchmal mit der Institution Kirche haderte, ein zutiefst gläubiger Mensch war, der seinen Argwohn am Umgang der Menschen miteinander, vor allem der Mächtigen und Reichen mit den Armen und Beladenen, dadurch zu lindern hoffte, dass er alles daransetzte, den Kranken und Hilfsbedürftigen zu helfen. Selbst wenn das manches Mal nicht im Einklang mit den kirchlichen Lehren stand. Obwohl sie es auch versuchte, schaffte Anna es nicht, sich so tief in sich selbst zu versenken und sich reinen Herzens Gottes Barmherzigkeit anzuempfehlen, dass sie die Anwesenheit des Herrn während der heiligen Kommunion empfinden konnte. Dazu war sie zu sehr damit beschäftigt, ihre Umgebung und ihre Mitmenschen im Auge zu behalten, weil sie seit ihren Erlebnissen im Umgang mit den irdischen Vertretern der Religion allzu misstrauisch geworden war. Darüber war sie manchmal traurig, aber der Erzbischof und dessen Machenschaften hatten sie ihres kindlichen Glaubens beraubt, der einstmals unbeirrbar und jenseits allen Zweifelns gewesen war.
»Dominus vobiscum!« Der junge Domherr sprach den Schlusssegen.
Die Gläubigen antworteten: »Et cum spiritu tuo!«
Damit war die Messe zu Ende. Allgemeines Gemurmel setzte ein, und ganz allmählich verließen die Gottesdienstbesucher den Kirchenraum durch die verschiedenen Ausgänge. Anna und Bruder Thomas wollten warten, bis sich das schlimmste Gedränge aufgelöst hatte.
Vor den Beichtstühlen bildeten sich lange Schlangen, aber jeder der Bußfertigen wartete geduldig, bis er an die Reihe kam. Anna fiel auf, dass mehrere Mönche den Beichtstuhl rechts neben der Apsis in der Seitenkapelle regelrecht abschirmten. Er sollte wohl hohen Herrschaften vorbehalten werden. Aber sie konnte niemanden ausmachen, der durch Gehabe, Begleitung oder Bekleidung als solcher auf Anhieb zu erkennen war. Normalerweise konnte man den Stand einer Person zumindest an der Kleidung auf den ersten Blick ablesen. Eigentlich war ihr erster Impuls nach der Messe gewesen, sich schnell wieder aus dem Staub zu machen, um nicht doch noch, hier, in der Höhle des Löwen, dem Erzbischof, ihrer Nemesis, über den Weg zu laufen. Dem Menschen, der sie mit einer Unbarmherzigkeit und Grausamkeit verfolgt hatte, die ihresgleichen suchte. In diesem Augenblick kam es ihr jedoch so vor, als würde sie auf eine übernatürliche Weise von seiner Gegenwart angezogen werden, wie von einem Abgrund, vor dem man stand und der einen das mühsam austarierte Gleichgewicht verlieren ließ und zu sich hinunterzog. Mit langsamen Schritten näherte sie
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