Die Rache Der Nibelungen
gibt keine Wölfe hier. Und wenn – dann hat vielleicht ein Händler ihn auf einem Schiff hergebracht und wird ihn hoffentlich auch wieder mitnehmen.«
Sigurd wusste nicht, warum der Ruf des Tiers ihn so irritierte, ihm die Freude an Sieg und Familie nahm. »Aber wenn der Wolf hier ist – wieso hörst du ihn dann nicht, Mutter?«
Er sah Elsa in die Augen, die ihm auswichen, als habe sie vergessen, was sie sagen wollte – oder als suche sie nach Worten, die ihn beruhigen konnten. »Wir sollten ... ich bin sicher ... müssen wir uns jetzt davon den schönen Tag verderben lassen? Lass uns reingehen! Mit den anderen speisen und feiern! Schließlich bleiben dir nur noch wenige Tage bei uns. Die wollen wir genießen.«
Wahrscheinlich hatte die Königin recht. Sigurd nahm sie beim Arm und führte sie ins Schloss. »Zeit ist bedeutungslos.«
Doch auch auf dem Weg in den Festsaal ließen ihn die trüben Gedanken nicht los.
Etwas war ... falsch.
Alles war ... zu richtig.
»Zeit ist bedeutungslos?«
Er hatte das gehört, der Satz war nicht von seinem eigenen Verstand geformt. Aber wer hatte es gesagt? Wenn er die Worte in seinem Kopf klingen ließ, fanden sie sogar eine Stimme. Eine dunkle, alte Stimme. Nicht Eolind. Aber es war Sigurd unmöglich, daran ein Gesicht festzumachen, oder gar ein Ereignis.
Er schüttelte die blonde Mähne, um sein Zentrum zu finden, um sich auf das zu konzentrieren, was anlag. Seine Mutter blickte besorgt und seltsam leer.
Natürlich war ein fröhliches Gelage im lichten Saal, und sein Auftritt wurde mit großem Hallo und freundlichem Kelchklang begrüßt. Sigurd setzte sich zu den Männern, die allesamt seine Freunde waren und nicht müde wurden, die Geschichte der Eroberung Xantens zu hören. Eine junge Schankmagd, deren blonde Zöpfe wie wippende Zeiger auf die üppigen Brüste unter der dünnen Leinenbluse deuteten, blinzelte ihm freundlich zu – ein Versprechen für die Nacht, die beginnen konnte, wann er es sich wünschte.
Sigurds Bein juckte, und er bückte sich kurz, um die Stelle zu kratzen.
Wieder das Gefühl, einen falschen Ton gehört zu haben, eine falsche Farbe in einem ansonsten perfekten Bild.
Die Haut an seinem Bein war glatt, überzogen von einem Flaum heller Haare. Und doch hatte seine Hand wulstiges Fleisch erwartet, kantig aufgeworfen.
Eine ... Narbe?
Woher sollte er eine Narbe haben? In der Schlacht um Xanten hatte keine Klinge seinen Körper erreicht, nicht einmal an einem Rosendorn hatte er einen Tropfen Blut gelassen.
Die Gedanken kamen mühsam, als müssten sie sich gegen Widerstände an die Oberfläche seines Bewusstseins kämpfen. Das Blut dröhnte in Sigurds Ohren, und er schlug seinen Kelch auf den Tisch, dass ihm der rote Wein über die Hand floss.
Gernot legte den Arm um seinen Sohn. »Was ist mit dir, edler König von Xanten? Haben die Gelage mehr von dir gefordert als die glorreiche Schlacht um dein Reich?«
Das Lachen der Anwesenden wurde schriller, und ihre Gesichter zerflossen in alle Richtungen. Es war nicht der Rausch des Alkohols, den kannte Sigurd zur Genüge.
Es war ... alles.
Sigurd stand auf, die helfenden Arme seiner Freunde abwehrend. »Ich ... ich brauche meine Bettstatt. Verzeiht mir die Ungeselligkeit.«
Sofort war die junge Schankmagd an seiner Seite, und ihre Stütze war weiches, williges Fleisch, welches sich ihm anbietend entgegenpresste.
Etwas knurrte.
Sigurd fuhr sich über die Augen in der Hoffnung, wieder klarer sehen zu können.
Auf dem Tisch vor ihm.
Der Wolf.
Golden schimmerndes Fell, klare blaue Augen, und die Reißzähne von den Lefzen entblößt. Kehlig knurrend.
Mitten auf dem Tisch vor ihm.
Sigurd stolperte zurück, riss den Arm schützend vor sein Gesicht und fiel zu Boden.
Doch das Tier griff ihn nicht an, sondern stand nur da, zwischen den sorgsam zubereiteten Speisen und den Krügen mit Wein und Wasser.
Niemand außer Sigurd reagierte auf den erstaunlichen Anblick. Gernot strich seiner Frau zärtlich über die Haare, und Lilja zeigte Eolind ein neues Kleid ihrer Lieblingspuppe. Jon und Gelen prosteten einander zu, dabei feixend auf die dralle blonde Schankmagd schauend.
Niemand – beachtete – den – Wolf.
Es war in diesem Moment, dass Sigurd sich entschloss, diese Welt nicht mehr zu glauben. Die Welt, in der er ein Krieger war, ein glorreicher König gar. In der fremde Worte aus seinem Mund kamen und Schlachten ohne Narben blieben. In der jeder Tag ein Fest und jede Nacht voll Leidenschaft
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