Die Rache Der Rose
und Füße geschnallt, die ihn jedoch eher behinderten. Jetzt war er vom Schrecken geschüttelt und schrie, aber die singende Menge marschierte vorbei, als ob er nicht existierte. Der Junge versuchte wieder auf die Straße zu gelangen, aber die Bretter steckten fest. Sein Schrei schallte mitleiderregend über den zuversichtlichen Gesang der dahinmarschierenden Zigeuner. Dann flog von irgendwoher ein schwarzgefiederter Pfeil herbei, landete in seinem Hals und brachte ihn zum Schweigen. Blut quoll zwischen seinen bebenden Lippen hervor. Der Junge lag im Sterben. Niemand warf ihm mehr als nur einen flüchtigen Blick zu.
Die Rose drängte ihr Pferd durch die Menschen und schrie sie wegen ihrer Achtlosigkeit an, versuchte den Jungen zu erreichen, dessen Todeszuckungen ihn noch tiefer unter dem Abfall vergruben. Als Elric, Wheldrake und die Rose bei ihm eintrafen, war es klar, daß er tot war. Elric streckte eine Hand nach der Leiche aus - und ein weiterer schwarzgefiederter Pfeil bohrte sich von oben direkt in das Herz des Kindes.
Wütend sah sich Elric um, und nur die gemeinsamen Anstrengungen von Wheldrake und der Rose hielten ihn davon ab, sein Schwert zu ziehen und den Ursprung des Pfeils ausfindig zu machen.
»Schändliche Feigheit! Schändliche Feigheit!«
»Vielleicht beging er ein noch schändlicheres Verbrechen«, mahnte die Rose. Sie beugte sich aus dem Sattel und ergriff Elrics Hand. »Hab Geduld, Albino. Wir sind hier, um zu erfahren, was diese Leute uns sagen können, nicht um ihre Gebräuche in Zweifel zu ziehen.«
Elric billigte ihre Weisheit. Bei seinem eigenem Volk war er Zeuge von noch weit grausameren Handlungen gewesen und wußte daher, daß ein empörender Folterakt anderen als gerechte Maßnahme erschien. Also beherrschte er sich, behielt die Menge allerdings noch argwöhnischer im Blick, als die Rose zur nächsten Reihe der fahrbaren Dörfer voranritt, die sich unendlich langsam, nicht schneller als in der Gangart eines alten Mannes über die fleischfarbene Straße fortbewegten; ihre Lederschürzen streiften über den Boden, als sie sich wie massige Witwen beim Abendspaziergang voranbewegten.
»Welche Hexerei treibt diese Siedlungen an«, murmelte die Rose, als sie sich schließlich durch die Nachzügler weiterbewegten, »und wie können wir eine davon besteigen? Diese Leute sind nicht gesprächig. Vor irgend etwas fürchten sie sich…«
»Das ist offensichtlich, meine Dame.« Elric warf einen Blick zurück zu der Stelle, an der der Knabe gestorben war; sein schlaffer Leichnam war auf dem aufgehäuften Abfall immer noch zu sehen.
»Eine freie Gesellschaft wie diese muß keine Steuern entrichten, kann also auch niemanden für Polizeiarbeit bezahlen - daher bilden die Familie und die Blutfehde die wichtigsten Instrumente von Recht und Gesetz«, erklärte Wheldrake, der immer noch sehr verstört wirkte. »Sie sind die einzigen Mittel, auf die man zurückgreifen kann. Ich nehme an, der Knabe bezahlte für das Fehlverhalten eines Verwandten, wenn schon nicht für sein eigenes. ›Blut um Blut, ächzte der Wüstenfürst. Und auf mein Wort: Ein Leben für ein Leben. Eh’ sich die Sonne heut senkt über Omdurman, muß der Nazarener das seine geben!‹ Ist nicht von mir! Nicht von mir!« fügte er hastig hinzu. »Aber unter den Einwohnern von Putney sehr beliebt. Wie man mir sagte, hat es M. C. O’Crook, der große Pantomime, geschrieben…«
In dem Glauben, daß der kleine Dichter lediglich um der eigenen Beruhigung willen plapperte, achteten Elric und die Rose nicht weiter auf ihn, und nun rief die Rose der nächsten Plattform etwas zu, die sich mit schabenden und zischenden Schürzen näherte, und durch eine Lücke zwischen den ledernen Behängen kam ein Mann herausgeschlendert, der in hellgrünen Samt mit purpurnen Besätzen gekleidet war und einen Goldring im Ohrläppchen, weiteres Gold um Handgelenke und Hals sowie eine Goldkette über dem Bauch trug. Seine dunklen Augen musterten sie, dann schüttelte er knapp den Kopf und verschwand wieder hinter dem Vorhang. Wheldrake wollte ihm schon folgen, zögerte jedoch. »Ich frage mich, nach welchen Gesichtspunkten wir eigentlich geprüft werden.«
»Das werden wir durch Versuche herausfinden«, erklärte die Rose, schob sich mit einer kräftigen Hand das Haar aus dem Gesicht, als sie zur nächsten sich langsam voranbewegenden Masse ritt. Dort streckte jemand den Kopf nach ihr aus, und eine rotbemützte Frau betrachtete sie ohne besondere
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