Die Rache Der Wanderhure
abrieb und hineinbiss, stellte er die Frage, die ihm schon lange auf der Zunge lag.
»Weshalb hast du mich überhaupt in deine Hütte gebracht und gepflegt? Und warum hast du mich nicht umgebracht, als ich dich angreifen wollte, nachdem ich aus meiner Bewusstlosigkeit erwacht bin?«
Marat wiegte den Kopf. »Das weiß ich selbst nicht genau. Gerettet habe ich dich, weil ich glaubte, ich könnte wichtige Informationen von dir erhalten. Ich war natürlich auch neugierig und wollte wissen, weshalb deutsche Ritter versucht haben, einen der Ihren umzubringen. Was deinen Angriff in der Hütte betrifft, so warst du viel zu schwach, um eine Gefahr für mich darzustellen. Außerdem hatte ich während deiner Fieberträume den Eindruck gewonnen, dass du verrückt sein könntest. Beim Volk meiner Mutter gelten Wahnsinnige als von den Geistern der Winde und des ewigen Himmels berührt. Ihre Visionen zeigen uns, wo die Rentiere zu finden sind.«
»Was sind Renntiere?«, wollte Michel wissen.
»Dem Volk meiner Mutter garantieren sie das Überleben, denn sie liefern Nahrung, Kleidung und sogar Werkzeuge, die aus ihren Geweihen und Knochen gefertigt werden.« Marat sah bei diesen Worten Bilder in sich aufsteigen, die er nur aus den Erzählungen seiner Mutter kannte.
Vielleicht werde ich nach diesem Krieg nach Osten gehen und ihr Volk suchen, dachte er. Allerdings würde er dort ebenso ein Fremder sein wie in diesem Land.
Michel blickte auf seinen halbgegessenen Apfel und deutete darauf. »Nahrung ist das hier und das, was die Köchin auf Sokolny auf den Tisch bringt. Von Renntieren habe ich noch nie gehört.«
»Rentiere! Nein, in diesem Land gibt es auch keine. Vielleicht sind die Leute deshalb so unzufrieden mit sich und ihrem Leben.« Marat winkte ab, denn warum sollte er sich über andere Menschen den Kopf zerbrechen, solange sie nicht enge Freunde waren oder Feinde, die es zu bekämpfen galt.
»Steck dein Schwert in die Scheide!«, sagte er zu Michel. »Ich lade dich zu einem Becher Bier in der Dorfschenke ein. Mehr solltest du jedoch nicht trinken, weil es deine vollständige Heilung verhindern könnte.«
Das Wort Bier rief eine ferne Erinnerung in Michel wach, ohne dass er sie festhalten konnte. Im Gegensatz dazu gelang es ihm recht leicht, sich die schöne, unbekannte Frau ins Gedächtnis zu rufen. Seufzend zuckte er mit der gesunden Schulter und folgte Marat ins Dorf.
»Während du an Renntiere denkst, kommt mir immer wieder diese Frau in den Sinn. Manchmal sehe ich sie sogar nackt vor mir!«, erklärte er seinem Begleiter.
Marat lachte schallend. »Das ist sicher ein interessanterer Anblick als meine Rentiere, die Hirschen ähnlich sehen sollen.«
»Aber wer ist die Frau? Es bedrückt mich, das nicht zu wissen!«
»Sie ist ein Teil deiner verlorenen Vergangenheit und wird es wohl auch für immer bleiben, es sei denn, du findest dein Gedächtnis wieder. Auf jeden Fall stellt sie eine Gefahr für dich dar, denn sie behindert dich im Kampf. Also konzentrierte dich das nächste Mal gefälligst. Sonst ist ein Feind schneller als du! Wenn du tot bist, wirst du nie mehr erfahren, wer sie ist oder gewesen sein könnte.«
Marats Warnung klang eindringlich. Er hatte vor, den Deutschen am nächsten Tag mit auf Patrouille zu nehmen, damit der Mann die Gegend kennenlernte, und dabei durfte kein Trugbild den Geist seines Schützlings verwirren.
Während sie durch das Dorf zur Schenke gingen, sah Michel sich um. Das Zentrum des Landes, über das Graf Sokolny herrschte, bestand aus der größeren Hälfte eines ausgedehnten Talkessels und den bewaldeten Hügeln, die das Tal diesseits der Eger umgaben. Die Burg stand auf einer kleinen Anhöhe, und das große Dorf, an dessen Rand er nun lebte, lag direkt zu Füßen der Festung. Weiter hinten konnte er den Lauf der Eger ausmachen, den einige besonders hohe Bäume kennzeichneten.
Die Gegend gefiel Michel, aber er konnte nicht sagen, ob er in einer ähnlichen Landschaft aufgewachsen war. Als er versuchte, sich zu erinnern, wurden seine Gedanken wieder von der Frau abgelenkt, und er fragte sich, bei welcher Gelegenheit er die geheimnisvolle Fremde unbekleidet gesehen hatte. Dabei wusste er nicht das Geringste über sie und seine eigene Vergangenheit. Sollte er Brüder oder gute Freunde gehabt haben, so hoffte er, ihnen nie im Kampf gegenüberstehen zu müssen. Mit einem unwilligen Laut richtete Michel seine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung.
Das Dorf oder vielmehr der
Weitere Kostenlose Bücher