Die Rache des Samurai
Geschichte in den Sinn, die Noguchi ihm erzählt hatte: Man hatte einen hohen Beamten gezwungen, Selbstmord zu begehen, da dieser Mann vom Geist seiner Mutter dazu angestachelt worden war, Kammerherr Yanagisawa anzugreifen. Hatte Aoi mit ihren Beschwörungen beim Tod dieses Mannes eine Rolle gespielt?
Er schüttelte diesen Gedanken ab. Zuerst einmal mußte er sich trotz seiner schwindenden Kräfte mit dringenderen Problemen beschäftigen.
Heute nachmittag mußte er zu seinem miai ; überdies galt es, in den weniger als vier verbliebenen Tagen Nachforschungen über vier Verdächtige anzustellen. Und Sano wußte nur zu gut, welche Schwierigkeiten diese Aufgabe mit sich brachte.
Rang und Ansehen von Matsui Minoru und Chūgo Gichin, O-tama und Kammerherr Yanagisawa verschafften den Verdächtigen beträchtlichen Schutz durch das Gesetz und gewährten ihnen größere Glaubwürdigkeit als Sano. Er konnte sie nicht ohne weiteres ins Gefängnis bringen und wie bei gewöhnlichen Verbrechern die Wahrheit unter der Folter aus ihnen herauspressen lassen. Bei jeder Anschuldigung mußte er sich rückversichern, indem er sich eindeutige Beweise verschaffte, ohne dabei Unschuldige in den Fall zu verstricken.
Unter schrecklichem Zeitdruck und mit nur dürftigen Anhaltspunkten hatte Sano die Archive verlassen und sich nach Hause begeben – in der Hoffnung, dort wichtige Neuigkeiten von Doktor Ito vorzufinden. Doch aus der Nachricht des alten Arztes war lediglich hervorgegangen, daß er bei der Untersuchung der Leiche des rōnin keinerlei Hinweise auf den Täter entdeckt hatte. Daraufhin hatte Sano seine Diener und Boten mit Zetteln losgeschickt, die sie an den Kontrollstationen des Palasts, an den öffentlichen Aushangschildern sowie an den Toren vor den Anwesen der Daimyō und der hatamoto anbringen sollten; auf diesen Zetteln warnte Sano die Nachkommen Endōs vor der drohenden Gefahr. Anschließend hatte er kurze Zeit vor dem Altar seines Vaters um eine Eingebung gebetet. Als diese ausgeblieben war, hatte er sich eine Strategie zurechtgelegt, die sich mehr auf Gefühl und Zweckdienlichkeit gründete als auf Logik.
Sano hatte beschlossen, sich die am wenigsten Verdächtige – die Konkubine O-tama – als letzte vorzunehmen. Was Hauptmann Chūgo anging, lehnte der Samurai in Sanos Innerem sich dagegen auf, diesen höchsten seiner militärischen Vorgesetzten mit einem Mordverdacht zu konfrontieren; die herausragende Stellung Chūgos war überdies ein großes Hindernis. Und was Kammerherr Yanagisawa betraf …
Sano überlief es eiskalt bei dem Gedanken, was er unternehmen mußte, falls sich Beweise für die Schuld des Kammerherrn fanden. Alle Genugtuung, seinen größten Widersacher als Mörder entlarven zu können, verblaßte angesichts der schrecklichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden. Doch ausgerechnet bei Yanagisawa sprach einiges dafür, daß er mit den Morden zu tun hatte. Weshalb sonst hätte er versuchen sollen, Sanos Nachforschungen zu unterbinden? Bei dem bloßen Gedanken an eine mögliche Täterschaft des Kammerherrn tat sich in Sanos Innerem ein schwarzer, gähnender Abgrund des Entsetzens auf; deshalb verbannte er den Gedanken an Yanagisawa rasch in den äußersten Winkel seines Geistes.
Statt dessen konzentrierte er sich auf Matsui. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Kaufmann ein Mörder war, lag nicht höher als bei den anderen Verdächtigen, doch es war vergleichsweise einfach, an Informationen über Matsui zu kommen. Sano würde den Laden des Kaufmanns aufsuchen und dessen Angestellte diskret ausfragen, um auf diese Weise in Erfahrung zu bringen, wo Matsui sich zum Zeitpunkt der Morde aufgehalten hatte, und ob er zu Gewalttätigkeiten neigte oder irgendwelche absonderlichen Gewohnheiten besaß. Über Chūgo und Yanagisawa wollte Sano nur dann Nachforschungen anstellen, falls Matsui sich als unschuldig erwies. Er rief sich noch einmal ins Gedächtnis, was er bereits über den ersten der Verdächtigen auf seiner Liste in Erfahrung gebracht hatte.
Über Generationen hinweg hatte Matsuis Familie – ein niederrangiger Samurai-Klan – ein bescheidenes Leben in Kantō geführt. Dann, vor ungefähr dreißig Jahren, war der junge, ehrgeizige Minoru Matsui das Familienoberhaupt geworden. Er hatte seinen Status als Samurai aufgegeben, war Geschäftsmann geworden und hatte in der Nähe des Ise-Tempels eine kleine Sake-Brennerei eröffnet. Bescheidene Erfolge hatten ihn angespornt, seine geschäftlichen
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