Die Rache des Samurai
Degradierung, Entlassung, Prügelung oder Hinrichtung eines untergebenen Beamten befehlen, der in seine Privatsphäre eindrang.
Sano setzte nun jenen Plan in die Tat um, den er in dem Brief an Hirata dargelegt hatte – auch wenn er wußte, daß er seine Zeit besser damit verbracht hätte, Kammerherr Yanagisawa zu überwachen. Sollte Yanagisawa, der Hauptverdächtige, sich tatsächlich als der bundori- Mörder erweisen, kam Sano nicht umhin zu tun, was getan werden mußte. Auf die bloßen Beteuerungen eines Mannes hin, der die Gunst des Shōgun verloren hatte, würde niemand an die Schuld des Kammerherrn glauben. Yanagisawa beherrschte den bakufu . Es bestand die Gefahr, daß man Sano als Verräter bestrafte, sollte er den Kammerherrn des Mordes beschuldigen. Also mußte Sano, wollte er für Gerechtigkeit sorgen und der Ehre dienen, Yanagisawa töten und anschließend seppuku begehen, den rituellen Selbstmord, um der Schande der Kerkerstrafe und der Hinrichtung zu entgehen.
Doch der Gedanke an den seppuku jagte eisige Böen des Entsetzens durch Sanos Inneres. Er war nicht sicher, ob er den Mut aufbrachte, das Schwert gegen sich selbst zu richten. Er hatte die Ehre seiner Familie und seine Karriere aufs Spiel gesetzt, um seine Nachforschungen weiterzuführen. Nun hing sein Leben davon ab, ob er beweisen konnte, daß Chūgo, Matsui oder die Frau, O-tama, der Mörder war. Denn sollte Yanagisawa der Schuldige sein, war Sanos Schicksal besiegelt.
Chūgo lenkte sein Pferd nach Süden. Er hielt den Kopf gesenkt, als er in flottem Tempo in der Mitte der breiten Prachtstraße ritt, als hätte er Furcht, von den Wächtern vor den Toren der großen, ummauerten Anwesen der Daimyō beobachtet zu werden. Sano folgte in sicherem Abstand. Bis jetzt war alles gutgegangen: Chūgo hielt nicht an, warf keinen Blick über die Schulter. Doch als der Hauptmann ins Stadtviertel Nihonbashi einritt, wuchs seine Wachsamkeit. Er ritt auf Umwegen über Seitengassen und zügelte immer wieder sein Pferd, um nach möglichen Verfolgern Ausschau zu halten. Jedesmal hielt auch Sano sein Pferd an, damit Chūgo keine verräterischen Hufschläge hörte; denn dieser Teil Nihonbashis war leer und verlassen, so daß keine Geräusche die des Pferdes überdecken konnten.
Sano mußte seine Konzentration zum einen darauf verwenden, Chūgos Aufmerksamkeit zu entgehen; zum anderen mußte er auf sich selbst achtgeben: Der Angriff, den er befürchtete, konnte immer und überall erfolgen, und im Augenblick war Sano sehr verletzlich – im Dunkeln allein. Die ständige Wachsamkeit forderte ihren Tribut: Einmal, als Sano sein Pferd nicht rechtzeitig anhielt, ruckte Chūgos Kopf herum, als er die Hufschläge hörte. Und später, als Sano sich umschaute, um nach Verfolgern zu sehen, verlor er den Hauptmann aus den Augen. In wildem Galopp trieb er sein Pferd um Hausecken herum – und wäre Chūgo vor einem Stadttor beinahe direkt vor die Augen geritten. Hastig lenkte Sano sein Pferd in eine Gasse und beobachtete, wie der Hauptmann auf die Fragen der Torwächter antwortete.
»Otani Teruo, Gefolgsmann des Fürsten Maeda«, erwiderte Chūgo auf die Frage nach seinem Namen. Die Torwächter, vom düsteren, strengen Äußeren Chūgos offenbar eingeschüchtert, ließen ihn passieren, ohne weitere Fragen zu stellen oder ihn zu durchsuchen. Am nächsten Tor gab Chūgo »Iishino Saburō, Gefolgsmann des Fürsten Kii« als seinen Namen an – mit dem gleichen Ergebnis.
Sano prickelte die Haut vor gespannter Erwartung. Benützte der Hauptmann verschiedene Tarnnamen, damit später niemand aussagen konnte, er habe sich von seinem Posten entfernt? Oder benützte er diese Namen, weil er einen weiteren Mord begehen und vermeiden wollte, daß es Zeugen gab, die seinen richtigen Namen mit dem Tatort in Verbindung bringen konnten?
Völlig verwirrt beobachtete Sano einige Zeit später, wie Chūgo in eine menschenleere Straße einbog, die von geschlossenen Läden gesäumt war. Aus der Deckung eines öffentlichen Aushangschildes sah Sano, wie der Hauptmann aus dem Sattel stieg und den Zügelstrick des Pferdes vor dem einzigen Laden festband, in dem noch Licht brannte. Chūgo ließ den Blick die Straße hinauf und hinunter schweifen; dann ging er zur Tür des Ladens und klopfte. Irgend jemand öffnete, und Chūgo trat ein.
Sano blinzelte, als der Hauptmann so plötzlich verschwand. Die Zweifel an Chūgos Unschuld und Yanagisawas Schuld keimten wieder in ihm auf. Hatte Chūgo sich mit
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