Die Rache des Samurai
hatte Sano zusammen mit seinen Eltern und ihrer Dienstmagd Hana gewohnt. Die vier winzigen Zimmer besaßen so dünne Wände, daß man jeden Laut des anderen hörte, ob man wollte oder nicht, wie auch die Geräusche der Stadt. Sanos Zimmer in der Polizeikaserne waren zwar größer gewesen als das im elterlichen Haus, aber nicht minder geräuschvoll. Im Vergleich dazu war die neue Villa ein Ort der Stille. Doch diese Stille ging Sano auf die Nerven. Und noch schlimmer als die Stille war die Einsamkeit.
Nach dem Tod seines Vaters hatte Sano seine Mutter und Hana, das Hausmädchen, zu sich in die Villa geholt. Doch seine Mutter hatte sich nie an das Leben auf dem Palastgelände gewöhnen können. Sie hatte Angst gehabt, das Haus zu verlassen, Angst vor den kultivierten und gebildeten Nachbarn, Angst vor den Dienern. Zum Schluß hatte sie sich sogar geweigert, ihr Schlafgemach zu verlassen. Als Sano versuchte, sie zu trösten, hatte sie ihn nur stumm und voller Elend angeschaut. Sie war zusehends verblüht, hatte weder essen noch schlafen können.
Nach zehn Tagen hatte Hana zu Sano gesagt: »Eure Mutter wird sterben, wenn sie noch länger hier bleibt, junger Herr. Schickt sie nach Hause.«
Widerstrebend hatte Sano eingewilligt und bedauert, daß er den neuen Wohlstand nicht mit seiner Mutter teilen konnte.
Als auch Hana fortging, wurde Sanos Einsamkeit noch schmerzlicher. Er verbrachte soviel Zeit wie möglich auf dem militärischen Übungsgelände und in den Archiven des Palasts. Er besuchte Feiern, die von anderen Gefolgsleuten des Shōgun gegeben wurden, die nicht begreifen konnten, weshalb ihr höchster Herr Sano zum sōsakan befördert hatte; denn die Umstände erlaubten es nicht, daß sie Näheres darüber erfuhren. So blieb es nicht aus, daß sie Groll gegen Sano hegten, selbst wenn sie ihm schmeichelten und ihn umwarben. Doch am schlimmsten für Sano war der gefürchtete Augenblick, wenn die Waffenübungen und die tägliche Arbeit geendet hatten und er allein in die Villa zurückkehren mußte.
Vielleicht würde eine Ehe mit Ueda Reiko die Leere in seinem Inneren füllen. Sano hoffte, daß der miai – das erste und wichtigste förmliche Treffen zwischen beiden Familien – einen guten Verlauf nahm.
Ein Hausmädchen kam ins Zimmer und setzte ein Tablett vor Sano ab, auf dem zugedeckte Speiseschüsseln standen. Sano aß Gemüsesuppe, Reis, geröstete Garnelen, Fisch, eingelegte Radieschen, Wachteleier, Tofu und süße Plätzchen. Von jeder Speise gab es reichlich, und alles war schmackhaft und liebevoll angerichtet. Was Sano am Leben im Palast auch mißfallen mochte – über das Essen und seine Dienerschaft konnte er sich nicht beklagen.
Er hatte gerade seine Mahlzeit beendet, als er Schritte auf dem Flur hörte. Er blickte auf und sah eine Frau ins Zimmer treten, die von seinem Leibdiener begleitet wurde.
»Die Tempelwächterin Seiner Hoheit«, verkündete der Diener.
Noch nie hatte Sano den Momijiyama besucht, jenen Tempel, in dem die Ahnen des jetzigen Tokugawa-Shōgun verehrt wurden und der sich im innersten Bereich des Palasts befand. Deshalb hatte Sano erwartet, daß es sich bei der Tempelwächterin um eine alte Vettel handelte – wie jene Priesterinnen, die sich in der Stadt um die Shinto-Tempel kümmerten. Nun aber erfüllte ihn freudiges Erstaunen, als er die Tempelwächterin betrachtete.
Sie war hochgewachsen, ungefähr so groß wie er selbst, und etwa in seinem Alter. Ihr Gesicht war nicht weiß geschminkt, aber sehr blaß. Ihre Wangen und der Rücken ihrer langen, schmalen Nase waren mit Sommersprossen gesprenkelt. Ihr dichtes, glänzendes schwarzes Haar, das im Sonnenlicht rostbraun schimmerte, hatte sie sorgfältig zu einem Knoten aufgesteckt; nur eine lange Strähne war den Kämmen entgangen und hing ihr bis zum Halsansatz herunter. Sie besaß ein festes, kantiges Kinn; auch die Schultern waren eckig und gerade, und die Finger kurz und kräftig, wie Sano bemerkte, als die Frau nun die Hände auf den Boden stützte, vor dem Podest niederkniete und sich verbeugte.
»Ich bin Aoi«, sagte sie.
Ihre Stimme hatte den vollen, sonoren Klang einer Tempelglocke und brachte in Sanos Innerem eine Saite zum Schwingen, die ihn erregte. Als sie sich erhob und auf die Hacken setzte, um Sano anzuschauen, besaßen ihre Bewegungen eine natürliche Anmut, welche die harten, kantigen Konturen ihres Körpers milderte. Auf irgendeine unerklärliche Weise ließ ihr schlichter Kimono aus Baumwolle – blaßblau
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