Die Rache des Samurai
und mit weißen Wolken und grünen Weidenzweigen bedruckt – sie anmutiger erscheinen als eine schlankere, zierlichere Frau in einem kostbaren Seidenumhang. Viele Männer, ging es Sano durch den Kopf, würden diese Frau wahrscheinlich als unscheinbar betrachten, als weit entfernt von den gewohnten Maßstäben weiblicher Schönheit. In seinen Augen jedoch war sie eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte.
Ohne zu blinzeln hielt sie Sanos Blick einige Herzschläge lang stand. Ihre Augen waren seltsam, von einem leuchtenden Hellbraun, wie Sano bemerkte. Dann lächelte sie ihn ganz kurz an. Ihm stockte der Atem, als ihm die Veränderung ihres Gesichts auffiel: tiefe Grübchen verwandelten die ernste, stille Schönheit ihres Antlitzes in etwas Geheimnisvolles, nicht Greifbares.
»Hat Seine Hoheit Euch mitgeteilt, daß Ihr mir helfen sollt, den Mord an Kaibara Tōju aufzuklären?« fragte Sano. Seine Unsicherheit ließ ihn steifer auftreten als gewöhnlich. In seiner Welt waren die Arbeiten, die ein Mann tat, durch Brauch und Sitte streng von jenen Arbeiten getrennt, die Frauen verrichteten. Sämtliche Beamte, Schreiber und Boten des bakufu waren Männer. Die Zeiten, als weibliche Samurai neben ihren Gatten in die Schlacht ritten, waren vorüber. Als Sano noch davon ausgegangen war, daß es sich bei der Mystikerin des Shōgun um eine alte, matronenhafte Priesterin handelte, hatte die in Aussicht gestellte Zusammenarbeit ihn kaum berührt, ja, nicht einmal interessiert. Doch mit einer so jungen, attraktiven Frau zusammenzuarbeiten und Rat bei ihr zu suchen …
»Ja. Der Shōgun hat es mir gesagt.«
Nie zuvor hatte Sano einen so ruhigen, in sich ruhenden Menschen wie Aoi erlebt. Sie strahlte eine kaum merkliche, jedoch immense Aura der Kraft aus. Und noch etwas kam hinzu: Auf einer primitiven geistigen Ebene glaubte Sano – wie auch der Shōgun, ja selbst die gebildetsten und dem Neuen aufgeschlossensten Männer – an die uralten Mythen und Sagen, an Mächte, die außerhalb des menschlichen Begreifens lagen, und an die Existenz von Geistern und Dämonen. Als er nun Aoi betrachtete, gerieten seine letzten Zweifel ins Wanken. Vielleicht konnte diese Frau tatsächlich mit der Welt der Geister in Verbindung treten. Ein Hauch atavistischer Furcht gesellte sich zu Sanos innerer Unsicherheit. Falls Aoi tatsächlich eine solche geistige Kraft besaß, stellte diese Gabe sie außerhalb des strengen gesellschaftlichen Klassensystems, in dem ein Bauer sich ganz selbstverständlich einem Samurai zu beugen hatte. Da Sano nicht wußte, wie er Aoi anreden sollte, suchte er in der Direktheit Zuflucht.
»Nun denn. Ihr glaubt also, den Mörder identifizieren zu können?«
»Vielleicht.« Aoi schlug die Augen nieder, senkte den Kopf und nickte leicht. Offensichtlich war sie eine Frau, die wenige Worte machte, denn sie ließ nicht die Absicht erkennen, das Gespräch von sich aus in Gang zu bringen.
»Und wie?« fragte Sano.
Aois Blick traf den seinen, und das Leuchten in ihren Augen war auf irgendeine Weise noch verführerischer als verschämte Koketterie. »Ich werde ein Ritual durchführen, um Verbindung zu dem Geist des toten Mannes aufzunehmen. Vielleicht sehen wir den Mörder durch seine Augen. Vielleicht können wir erfahren, was er weiß. Von ihm selbst. Falls die Geister willens sind.« Sie drehte ihre kräftigen Hände, so daß die Innenflächen nach oben wiesen; es war eine Geste, mit der sie Sano zu verstehen geben wollte, welche Ungewißheiten mit einem solchen Unterfangen verbunden waren, aber auch, welche Wunder dabei geschehen konnten.
»Ich verstehe«, sagte Sano, den nicht nur der Gedanke faszinierte, gewissermaßen eine Abkürzung zur Wahrheit zu nehmen, sondern auch die Aussicht, Aoi des öfteren zu sehen. Doch erst einmal mußte er zum Schauplatz des Mordes, zu den Zeugen und den möglichen Verdächtigen unter den Familienangehörigen und Freunden der Familie Kaibara. Zuerst mußte die sorgfältige und profane Suche nach Informationen vorgenommen werden, die mit der Welt der Geister nicht das geringste zu tun hatte. »Ich komme heute abend zum Tempel.«
»Heute abend. Gut.« Aoi, die Sanos Worte als Aufforderung betrachtete, zu gehen, verbeugte sich, erhob sich und fügte hinzu: »Um das Ritual vollziehen zu können, brauche ich irgend etwas, das dem Opfer gehörte. Sonst kann ich keine Verbindung zu seinem Geist herstellen.«
Sano nickte. »Ich werde etwas beschaffen.«
Und dann war sie fort – so
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