Die Rache des Samurai
Schwertkampftechnik erproben will – wer bietet sich da besser zum Opfer an als ein Eta?«
»Natürlich!« Sano betrachtete sie mit wachsender Bewunderung. »Der Mörder wollte Kaibara töten, hatte aber nie zuvor einen Mann enthauptet oder aus einem Kopf eine Trophäe gefertigt. Deshalb hat er beides an einem Opfer geübt. Und dazu hat er sich einen Eta erwählt, weil ihm keine hohe Strafe drohte, hätte man ihn bei dem Mord gefaßt.«
Sano fühlte sich noch stärker zu Aoi hingezogen, als sich ihm die scharfe Intelligenz dieser geheimnisvollen Frau offenbarte, deren gleichermaßen erschreckendes wie erotisches Ritual so wertvolle Hinweise erbracht hatte. Und ihre schimmernden Augen und ihr leicht nach vorn geneigter Kopf, der von Aufmerksamkeit sprach, ließen erkennen, daß ihr die Zusammenarbeit mit Sano Freude machte.
Flüchtig dachte Sano an seine mögliche zukünftige Frau. Er wußte nicht das geringste über ihren Charakter und ihr Äußeres. Dann vergaß er sie wieder, als er nach einer Möglichkeit suchte, sein Verhältnis zu Aoi zu vertiefen.
»Ich möchte Euch morgen abend gern noch einmal treffen«, sagte er, begeistert darüber, eine so kluge und schöne Partnerin zu haben, mit der er über seine Arbeit reden konnte. »Ich glaube, Eure Ideen werden mir helfen, alles besser zu verstehen und den Mörder zu fassen.«
Doch seltsamerweise bewirkte Sanos Begeisterung, daß Aoi wieder in ihre stille, beinahe frostige Unnahbarkeit verfiel. »Wie Ihr wünscht«, sagte sie steif. Sie nahm den Beutel, die Haarsträhne und das Schildchen, hielt Sano die Gegenstände hin und verbeugte sich.
Die Geste war eine stumme Bitte Aois an Sano, sie nun zu verlassen. Obgleich Sano wußte, daß ein Mann seines Ranges Aoi jeden Befehl hätte erteilen können, respektierte er ihren Wunsch. Er brachte es einfach nicht fertig, diese Frau als Untergebene zu betrachten, der er Anweisungen geben durfte, wie es ihm gefiel. Aoi hatte ihm bereits mehr gegeben, als er erwartet hatte: einen Einblick in die Motive des Mörders und eine Beschreibung des Mannes, nach dem er suchen mußte. Sano nahm Aoi die Gegenstände aus den Händen.
Ihre Finger berührten sich. Trotz der nächtlichen Kühle waren Aois Hände warm. Sano sah den Hauch von Röte, der ihr in die Wangen stieg, und er vermutete, daß die kurze Berührung auch bei Aoi wieder das Begehren erweckt hatte. Doch obwohl er sich umdrehte und zu Aoi zurückschaute, als er die Lichtung überquerte, erwiderte sie seine Blicke nicht.
Vielleicht würde er Aoi morgen besser kennenlernen – und in ihr dieselben Gefühle erwecken, die sie bei ihm wachgerufen hatte.
9
T
iefer Nebel lag wie eine Decke über der Stadt, als Sano früh am nächsten Morgen durch das Westtor des Palastes ritt. Vor sich konnte er lediglich die Dächer des banchō ausmachen. Der Stadtbezirk, in dem der Kaibara-Klan und andere hatamoto der Tokugawa wohnten, sah wie eine Stadt auf einem Gemälde in Pastellfarben aus: Vor dem Hintergrund einer Hügellandschaft, deren Konturen durch einen weißen Schleier zart und verwischt wirkten, schienen die Dächer auf einem bleichen See aus Nebel zu schweben.
Doch der stimmungsvolle Anblick schwand rasch, als Sano in den banchō einritt. Hunderte kleiner, baufälliger yashiki standen dicht an dicht; jedes dieser Anwesen war von einem lebenden Zaun aus Bambus umgeben. Strohgedeckte Dächer erhoben sich über die blattbewachsenen Stengel. Die Gerüche von Pferdemist und Abfällen lagen schwer in der Luft. Die Gefolgsleute der Tokugawa, die in diesem Viertel wohnten, zählten in der Tat nicht zu den reichsten Bürgern Edos, mochten sie ihrem Herrn noch so treu und lange Zeit gedient haben. Steigende Preise und der sinkende Wert ihrer Einkünfte bewirkten, daß sie im Vergleich zu ihren Vorgesetzten, die Ländereien besaßen, und zur wohlhabenden Schicht der Händler arme Leute blieben. Und Zeichen der Armut gab es im Überfluß: kahle Wände aus Fachwerk, ohne Verputz und schmückendes Beiwerk; hölzerne Tore ohne Überdachungen, bei denen lediglich ein armseliger Unterstand als Wachstube diente. Samurai in schlichter Baumwollkleidung und schmucklosen ledernen Waffenröcken standen in diesen Wachhäuschen auf Posten oder bevölkerten Straßen, die kaum breit genug waren, daß vier Männer Seite an Seite hindurchgehen konnten.
Sano hielt einen der vorüberkommenden Samurai an und erkundigte sich nach dem Weg zum yashiki der Familie Kaibara. Doch als er dann sein Pferd
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