Die Rache des Samurai
durch die Menschenmenge lenkte und holperige, schmutzige Straßen hinunterritt, verlor er in dem verwirrenden Labyrinth des banchō rasch die Orientierung. Sano fiel ein altes Sprichwort ein: »Selbst jemand, der im banchō geboren ist, kann sich darin verirren.« Doch nachdem Sano sich noch einige Male nach dem Weg erkundigt hatte, gelangte er schließlich zum Anwesen der Kaibara. Draußen vor dem Tor, an dem ein schwarzes Tuch als Zeichen der Trauer hing, wartete Hirata. Sein breites, sonnengebräuntes Gesicht strotzte vor Gesundheit, und als er Sano erblickte, leuchtete in seinen Augen ein jungenhafter Eifer auf.
Nachdem die Männer sich begrüßt hatten, sagte Sano: »Stelle fest, ob jemand gesehen hat, wie Kaibara den banchō an dem Abend verließ, als er getötet wurde, oder ob jemand beobachtet hat, daß er verfolgt worden ist – insbesondere von einem großen, pockennarbigen Samurai, der auf dem rechten Bein hinkt.«
Als Sano dem jungen dōshin berichtete, wie er an die Beschreibung des Verdächtigen gekommen war, erschienen ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht wie ein seltsamer, wirrer Traum. Doch sein Glaube an die übersinnlichen Kräfte Aois war ungebrochen.
Als Hirata sich aufmachte, die Anweisungen Sanos zu befolgen, blickte dieser nach Osten in Richtung Palast. Die Fundamente des riesigen Bauwerks waren noch immer von Nebelschwaden umhüllt, als würden die Geister, die Aoi bei ihrem Ritual herbeigerufen hatte, noch dort umgehen. Sano fragte sich, was Aoi jetzt wohl tun mochte. War auch ihr Schlaf der gemeinsamen Erlebnisse im Tempel wegen so unruhig gewesen wie der seine …?
Sano verdrängte diesen störenden Gedanken, schwang sich vom Pferd und ging zum Wachhäuschen vor dem yashiki der Kaibara. Dort stellte er sich dem Posten vor, einem älteren Samurai, und sagte: »Ich muß mit der Familie Kaibara reden.«
»Ja, Herr.« Der Posten schlurfte zum Tor.
Sano fragte sich, wie ein so schwächlicher alter Mann damit beauftragt werden konnte, das Anwesen der Familie seines Herrn zu schützen. »Hattet Ihr vorgestern abend Wache?« fragte er.
Der Posten öffnete das Tor und trat zur Seite, um Sano hindurchzulassen. »Nein«, sagte er traurig und ließ den Kopf hängen. »Wäre es so gewesen, hätte ich dafür gesorgt, daß mein Herr das yashiki nicht verläßt, und seinen Tod verhindert.«
Diese Antwort verblüffte Sano. Es hörte sich an, als wäre das Tor an jenem Abend unbewacht gewesen; ein mit Sicherheit außergewöhnlicher Vorfall im banchō , der überdies die Möglichkeit ausschloß, daß es einen Zeugen gab, der beobachtet hatte, wie Kaibara das Anwesen verließ. Außerdem – weshalb sollte ein niederrangiger Gefolgsmann es für notwendig erachten, dafür zu sorgen, daß sein Herr im Haus blieb?
»Ich möchte mit der Abendwache sprechen«, erklärte Sano. »Aber sagt mir zuerst einmal, warum Ihr nicht wolltet, daß Kaibara das yashiki verließ.«
Plötzlich spiegelte sich Scham in den Augen des Mannes, und Sano wußte Bescheid: Niemand hatte an dem schicksalhaften Abend auf Posten gestanden, und der getreue alte Gefolgsmann wollte die Privatangelegenheiten der Familie Kaibara nicht preisgeben.
»Ist schon gut«, sagte Sano, »ich danke Euch.« Er ließ sein Pferd bei dem Wachposten stehen und trat durchs Tor. Vielleicht befanden sich die Antworten auf seine Fragen im Inneren des Hauses.
Als er den tristen, menschenleeren Hof betrat, stieg eine düstere Ahnung in Sano auf, was die Wahrheit betraf. Das Haus war ziemlich groß, mit breiter Veranda und einem ausladenden Vorbau über dem Eingang. Doch die Wände waren von Rissen und Spalten durchzogen; zerbrochene Fenstergitter klapperten im Wind; Unkraut sproß zwischen den Steinplatten des Gehweges. Kein Diener erschien, um Sano zu begrüßen oder den Kaibara seinen Besuch anzukündigen. Daß die Familie ihr Haus dermaßen verfallen ließ, deutete auf finanzielle Schwierigkeiten hin; dies würde auch erklären, weshalb die Kaibara keine Angestellten hatten, die das yashiki bewirtschafteten und schützten.
Sano blieb stehen, nachdem er das Haus betreten und in der Eingangshalle seine Schuhe ausgezogen hatte. Der Geruch nach Weihrauch, das Weinen einer Frau, die dumpfen Trommelschläge, ein monotoner Sprechgesang, die geschlossenen Fensterläden und das trübe Licht im Inneren des Hauses erinnerten Sano an die Totenwache, die er an der Schlafstatt seines verstorbenen Vaters gehalten hatte. Er gab sich einen Ruck, bevor er den
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