Die Rache des Samurai
erhebliche Einschränkungen in der Lebensführung vornahm, als anderen dieses Schicksal zu offenbaren. Kein Wunder, daß sie nur einen Wachmann hatten und nicht genug Personal, das sich ums Haus kümmerte, und daß so wenige Trauernde bei Kaibaras Totenfeier zugegen waren.
»Ihr seht also, daß niemand einen Grund hatte, meinen Mann so sehr zu hassen, daß er ihn ermordete. Doch bis ins vergangene Jahr gab es dann und wann Tage, da mein Gatte wieder er selbst war. Dann starb unser einziger Sohn.«
Die Frau schaute zur gegenüberliegenden Seite des Zimmers, wo Sano einen weiteren Traueraltar erblickte. Eine Gänsehaut überlief ihn, als er an die Worte dachte, die Kaibaras Geist durch Aois Mund gesprochen hatte. War der Tod des Sohnes der ›schwere Kummer‹ gewesen, der Kaibara geplagt hatte?
Die Witwe schloß die Augen und kniff die Lippen zusammen, so daß ihr Mund einen geraden, schmalen Strich bildete; es schien, als würden die Erinnerungen an den Tod ihres Sohnes mit der noch frischen Trauer über die Ermordung ihres Mannes ein unseliges Bündnis eingehen, das ihr unerträglichen Schmerz bereitete. Ihre Hände umkrampften den Beutel, doch sie gab keinen Laut von sich. Der traurige Singsang des Mönchs jedoch, und das Schluchzen des Hausmädchens, waren wie ein Widerhall des Leides, das die alte Frau peinigte. Sano war es zuwider, ihr weiteren Schmerz zu bereiten, doch mit sanfter Stimme fragte er: »Was hat Euer Mann in der Nacht, als er getötet wurde, im Apothekerviertel getan?«
Sanos Frage bewirkte, daß der alten Frau Tränen über die Wangen liefen. Dann schlug sie die Augen auf, wischte sich mit dem Ärmel darüber und riß sich zusammen. »Unser Sohn war Hauptmann bei der städtischen Feuerwache, wie früher schon mein Mann. Letztes Jahr gab es in Nihonbashi eine schreckliche Feuersbrunst.«
Sano erinnerte sich, daß zweihundert Menschen in dem Flammenmeer ums Leben gekommen waren.
»Unser Sohn starb, als ein brennendes Haus auf ihn stürzte. Danach ist mein Mann wieder und wieder zum Unfallort gegangen. Wir haben versucht, ihn im Haus zu behalten, doch er konnte sich immer wieder hinausschleichen.« Ihre Stimme brach, als sie hinzufügte: »Daß mein Mann … uns heimlich entrinnen konnte, war zum Schluß … das einzige Anzeichen dafür, daß er überhaupt noch eines klaren Gedankens fähig war.«
Jetzt wußte Sano, weshalb Kaibara sich nach Nihonbashi begeben hatte, und warum er eine so leichte Beute für den Mörder gewesen war. Doch die Witwe hatte ihm noch nicht gesagt, ob es jemanden gab, der ein Motiv gehabt hatte, ihren Mann zu töten.
»Ich möchte gern mit anderen Angehörigen Eurer Familie sprechen«, sagte er. Vielleicht hatte ein bedürftiger Verwandter Kaibara getötet, um an das spärliche Erbe heranzukommen, oder einen Meuchelmörder gedungen, um sein wahres Motiv zu verschleiern.
Ein Schmerzenskrampf ließ das Gesicht der alten Frau erstarren. »Es gibt keine anderen Familienangehörigen. Die meisten sind beim großen Feuer von Meireki ums Leben gekommen. Andere sind am Fieber gestorben, oder durch Unfälle. Als mein Sohn starb, war mein Mann der letzte Überlebende seiner Sippe.«
»Das tut mir leid.« Sano schwieg eine Zeitlang, um dadurch einer angesehenen Familie, die nun erloschen war, seine Achtung zu erweisen. Allmählich keimte in ihm der Verdacht, daß der bundori- Mörder seine Opfer willkürlich ausgewählt hatte. Wie tragisch für den Kaibara-Klan! Und wieviel schwieriger für Sano, den Mörder zu finden.
Die Witwe wurde von der Last ihres Schmerzes buchstäblich niedergedrückt, und Sano beendete das Gespräch mit einer letzten Frage. »Sagt Euch der Name Araki Yojiemon etwas?«
Sano rechnete nicht damit, daß dieser Name auf irgendeine Weise mit den Kaibara zu tun hatte oder daß die alte Frau sich gut in der Geschichte auskannte. Deshalb überraschte es ihn, als sie sagte: »Oh, ja. Araki Yojiemon war der Urgroßvater meines Mannes. Er war das Oberhaupt der Sippe und hat Tokugawa Ieyasu in der Zeit der großen Kriege gedient.«
Als Geschichtsgelehrter – und Samurai – wußte Sano, daß es schwierig war, die Abstammung eines Samurai zurückzuverfolgen; denn die Angehörigen dieser Gesellschaftsschicht änderten häufig aus den verschiedensten Gründen ihre Namen: Vielleicht hatte es auch Arakis Sohn so gehalten, um einen Aufstieg in Rang und Ansehen zu würdigen oder um ein bedeutsames Familienereignis zu feiern oder einfach nur deshalb, weil ihm eine
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