Die Rache des Samurai
Wohnraum betrat und die Personen, die sich darin aufhielten, mit berufsmäßiger Distanz betrachtete.
Ein Mönch in einem orangefarbenen Umhang las in gleichförmigem Sprechgesang aus buddhistischen Schriften vor, wobei er bestimmte Stellen des Textes durch Schläge auf eine kürbisförmige hölzerne Trommel betonte. Vor ihm befand sich der Sarg – eine aufrecht stehende, weiß angestrichene Kiste aus Holz. Auf einem niedrigen Altar standen ein Totenfeier-Tablett, das Kaibaras Name trug, eine Vase mit Blumen darin, schwelende Weihrauchstäbchen und brennende Kerzen, sowie Opfergaben: Reis, Obst und Sake. Sano hatte damit gerechnet, eine Vielzahl von Trauernden anzutreffen, doch er sah nur zwei Frauen – die eine greisenhaft und mit weißem Haar, die andere um die Fünfzig. Beide knieten in der Nähe des Mönchs und waren in weiße Trauergewänder gekleidet. Die jüngere Frau weinte. Krampfhaft hielt sie die Hand der alten Dame, die unerschütterliche Ruhe ausstrahlte. Beide Frauen hoben den Blick, als sie Sanos Schritte vernahmen, während der Mönch mit seinem Sprechgesang und den Trommelschlägen fortfuhr.
Sano stellte sich vor und fügte hinzu: »Ich bedaure, euch zu einem solchen Zeitpunkt zu stören, aber der Shōgun hat mich mit der Aufgabe betraut, den Mörder von Kaibara -san zu ergreifen. Deshalb muß ich euch einige Fragen stellen.«
Die gedämpften Geräusche, die Leere des Zimmers und der muffige Geruch drückten Sano aufs Gemüt. In den Ecken und Winkeln der Decke hingen Spinnweben und offenbarten die gleiche Vernachlässigung wie das Äußere des Hauses. Sano spürte eine Trostlosigkeit, die viel älter war als der Schmerz über die Tragödie, welche dieser Familie vor so kurzer Zeit widerfahren war.
»Wart Ihr Kaibara -sans Gemahlin?« fragte Sano die ältere Frau.
Sie nickte. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, die Augen eingesunken, die Mundwinkel herabgezogen. Der Haaransatz war so weit zurückgewichen, daß es aussah, als hätte die Frau sich wie ein Samurai den Scheitel kahlgeschoren und ihr weißes Haar auf dem Hinterhaupt zu einem Knoten geflochten.
»Was Ihr auch wissen wollt – ich werde es Euch sagen, wenn ich es vermag«, erklärte sie. Ihre Stimme besaß den tiefen, geschlechtslosen Klang des Alters. Sie wandte sich an die zweite Frau, offenbar ihre Hausdienerin, und sagte: »Hole unserem verehrten Gast Tee.« Dann verstummte sie, die Hände in stiller, würdevoller Ergebenheit verschränkt.
Sano kniete sich ihr gegenüber und wartete, bis das Hausmädchen ein Tablett mit Teeschalen und Gebäck vor ihm abgestellt und sich dann zurückgezogen hatte. Bei der Erinnerung an die Bestattung seines Vaters wurde Sano die Kehle eng, doch aus Höflichkeit nahm er ein paar Bissen vom Gebäck und nippte am Tee. Dann sagte er mit leiser Stimme, so, als wollte er das Trauerritual nicht stören: »Ich habe Euch etwas mitgebracht, das Eurem Gatten gehörte.«
Sano zog den Beutel unter seiner Schärpe hervor und reichte ihn der Witwe. »Habt Ihr irgendeinen Verdacht, wer ihn ermordet haben könnte?«
Sie schüttelte mit langsamen Bewegungen den Kopf und streichelte über den abgewetzten Beutel. »Nein. Wißt Ihr, mein Mann war schon seit langer Zeit tot.«
»Wie meint Ihr das?« entgegnete Sano verwirrt.
»Nach und nach, mit jedem Tag, der vorüberging, hat der Geist meinen Mannes seinen Körper verlassen. Er hat das Gedächtnis verloren. Manchmal hat er die Diener nicht mehr erkannt oder unsere Freunde, ja, nicht einmal mich.« Die Witwe stieß einen kaum hörbaren Seufzer aus. »Er weinte und brabbelte wie ein Kind, und ich mußte ihn füttern und waschen und ankleiden wie einen kleinen Sohn. Wann immer er das Haus verließ, hat er sich verlaufen. Manchmal hat die Polizei ihn hierher zurückgebracht. Wir haben versucht, dafür zu sorgen, daß er das Haus nicht mehr verläßt …«
Ihr Blick schweifte zur Tür, und nun erkannte Sano, was die Worte des Wächters zu bedeuten hatten. Das Alter hatte Kaibaras Verstand verwirrt und nur noch einen gebrechlichen Körper hinterlassen: ein tragisches Schicksal, das jedoch vielen widerfuhr …
»Ich muß mich entschuldigen, daß ich Euch einen so armseligen Empfang bereite«, fuhr die Witwe fort. »Doch in den letzten Jahren mußten wir die meisten unserer Diener und Gefolgsleute entlassen.«
… ein tragisches Schicksal, führte Sano den Gedanken weiter, das offensichtlich so viel Schande über die Familie gebracht hatte, daß sie lieber
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