Die Rache des Samurai
gewesen waren?
Die Kerzen flackerten heller. Der Weihrauch erfüllte inzwischen die gesamte Lichtung mit einem dichten, süß und schwer riechenden Nebel, der Sano benommen machte und ihm die Augen tränen ließ. Das wütende Gebell eines weiteren Hundes rollte den Hügel hinauf. Dann erklang wieder Kaibaras Stimme aus Aois Mund:
»Es war dunkel. Nebelig. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber er war sehr groß. Und er hinkte …«
»Mit welchem Bein?« drängte Sano.
»… das rechte …« Als Kaibaras Stimme immer leiser wurde und schließlich verstummte, fielen die Merkmale eines alten Mannes von Aoi ab, und ihr Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos.
»Kaibara!« Sano widersetzte sich dem instinktiven Verlangen, die Hand auszustrecken, um nach dem schwindenden Geist zu greifen. »Kommt zurück!«
Mit den langsamen, bedächtigen Bewegungen einer Priesterin bei einer Zeremonie, legte Aoi den Beutel zurück auf den Altar. Sie wickelte die Haarsträhne des Eta aus dem Papier und rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger; dann legte sie die Hände kelchförmig aneinander, hob sie an die Nase und schnüffelte an der Strähne. Vor gespannter Erwartung, was der Eta ihm zu berichten hatte, vergaß Sano für den Augenblick die Enttäuschung darüber, daß die Verbindung zum Geist Kaibaras abgerissen war.
Aois Gesichtsmuskeln strafften sich; ihre Blicke huschten mit ängstlicher Wachsamkeit von einer Seite der Lichtung zur anderen. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, drückte die Arme fest an den Körper und preßte die verkrampften Hände an den Busen. Sano stieß überrascht die Luft aus, als er die typische unterwürfige Körperhaltung eines Eta erkannte.
Ein plötzlicher Windstoß fuhr durch die Äste der Kiefern. Die Kerzen flackerten; eine von ihnen erlosch mit dem Zischen von geschmolzenem Wachs. Aois Lippen bewegten sich wieder.
»… tut mir leid … bitte, Herr. Ich wollte Euch nicht beleidigen. Vergebt mir!« Diesmal war die Stimme heiser und kehlig; Furcht schwang darin mit. Mehrmals senkte Aoi hastig den Kopf, wobei ihr Blick jedesmal von Sanos Gesicht zu den Schwertern an seiner Hüfte zuckte.
»Ich tue dir nichts«, versicherte Sano dem Geist schnell. »Ich möchte nur, daß du mir sagst, wer dich getötet hat.«
»Samurai. Kenne seinen Namen nicht.«
»Wie sah er aus? Beschreibe ihn mir.«
In Aois Augen spiegelte sich nackte Angst. »Groß. Stark. Ein hinkendes Bein. Und eine Narbe.«
»Eine Narbe? Wo?« stieß Sano aufgeregt hervor. Es würde die Ermittlungen erheblich leichter machen, wenn der bundori- Mörder ein sichtbares äußeres Merkmal besaß, an dem man ihn erkennen konnte.
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Keine … einzelne Narbe. Überall. Gesicht. Hände.« Aois Mund bewegte sich, als der Geist, der sich nur unbeholfen ausdrücken konnte, nach Worten suchte.
Sano wagte eine Vermutung: »Waren es vielleicht Pockennarben?«
Ein heftiges Nicken; in die furchterfüllten Augen trat ein Ausdruck der Erleichterung.
»Was noch? Erzähle mir mehr.«
Doch der Geist gab nur noch unzusammenhängendes Gemurmel von sich, das bald darauf verstummte. Aois Gesicht entspannte sich, und sie gab die unterwürfige Haltung eines Eta auf. Mit wachsender Erregung beobachtete Sano, wie sie die Haarsträhne zurück auf den Altar legte und das Schildchen nahm. Würde er nun erfahren, um wen es sich bei dem hochgewachsenen, hinkenden, pockennarbigen Samurai handelte?
Aoi betastete das Schildchen, und ein heftiger Schauder durchfuhr ihren Körper. Sie richtete einen schmerzerfüllten Blick auf irgendeine ferne Szenerie, die nur sie allein zu sehen vermochte, und flüsterte: »Die Soldaten marschieren wieder. Bald werden sie ans Ziel gelangen, auf das Schlachtfeld. Er wird sein Schwert ziehen. Und dann …«
Mit einem Kreischen schleuderte sie das Schildchen von sich. Das Papier wirbelte ein kurzes Stück durch die Luft und schwebte dann zu Boden. Hastig streckte Sano die Hände aus, um es zu packen, bevor es in die Kerzenflammen fiel.
»Vorsicht!« rief er, als die Angst, sein Beweisstück zu verlieren, größer wurde als die Furcht, das Ritual zu unterbrechen.
Mit unbeholfenen Bewegungen, die ihre gewohnte Anmut vermissen ließen, erhob sich Aoi. Dabei stieß sie mit dem Knie so heftig gegen den Altar, daß er umstürzte. Die Kerzen und Weihrauchpfannen wurden hinuntergeschleudert und über die Lichtung verstreut. Aois Hand stieß Sano zurück, bevor er das Schildchen oder einen anderen
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