Die Rache ist Dein
zufällig mitten in der Wildnis auftaucht?« Decker blieb skeptisch. »Hat sie gesagt, was sie da oben wollte?«
»Zeit totschlagen, bis zu ihrer Verabredung mit Oliver.«
»Wann war das?«
»Gegen fünf. Sie sagte, sie würde sich später mit Scott treffen.«
»Das stimmt«, bestätige Oliver. »Ich kauf ihr das keine Sekunde lang ab«, knurrte Decker. »Wieso ausgerechnet in Angeles Crest?«
»Wahrscheinlich ist sie dieselbe Strecke gefahren wie ich, Dad. Und wenn sie so gedacht hat wie ich, ist sie vom Freeway abgebogen, als der Stau anfing. Vielleicht ist sie nach Angeles Crest gefahren, um ein bißchen abzuschalten.«
»Nein, ist sie nicht«, widersprach Decker. »Sie fuhr da rauf, weil sie dir gefolgt ist.«
»Sie fuhr keinen Camry!«
»Ich sag ja nicht, daß sie der Camryfahrer war. Ich sag noch nicht mal, daß sie hinter der Camry-Sache steckte. Aber ich kann es nicht einfach als einen merkwürdigen Zufall abtun. Dazu ist es zu verrückt.«
»Es klingt verrückt«, warf Oliver ein. »Trotzdem hat sie mir gesagt, daß sie Cindy gesehen hat. Und Cindy hat recht. Hayley kann die Wohnung nicht verwüstet haben, weil wir den ganzen Abend zusammen waren.«
»Hayley ist eine der wenigen Frauen, die mit mir spricht«, sagte Cindy. »Warum sollte sie das tun?«
»Im Moment denke ich nicht an Motive, Cindy«, meinte Decker. »Nur an Kandidaten. Und nach dem, was du erzählt hast, steht sie ziemlich weit oben auf der Kandidatenliste.«
22
Gegen vier Uhr morgens war das meiste sortiert, aufgelistet und weggebracht. Die Böden waren gefegt und gesaugt — die Staubsaugerbeutel waren natürlich Beweisstücke —, die Küchenschränke und der Kühlschrank waren wieder sauber, allerdings ohne Nahrungsmittel. Das Schlafzimmer war gelüftet und roch jetzt nach Lilien-Raumspray. Die Steppdecke war weg, aber Cindy hatte noch eine Wolldecke und frische Laken. Alles war ordentlich, sogar bewohnbar, hinterließ aber einen schlechten Nachgeschmack. Oliver, gut erzogen, ging als erster.
Decker zögerte, bat sie, mit ihm nach Hause zu kommen. Aber Cindy lehnte ab, lächelte müde, sagte, er solle nach Hause zu seiner Familie fahren. Sie käme schon zurecht. Und selbst, wenn nicht, müsse sie lernen, wieder allein zurechtzukommen. Sie komplimentierte ihn regelrecht raus. Sobald er gegangen war, schob sie den Riegel vor, lehnte sich gegen die Tür, atmete tief aus. Ihre Wohnung wirkte steril, so anheimelnd wie ein preiswertes Hotelzimmer. Alle persönlichen Dinge waren eingetütet und von Oliver und ihrem Vater mitgenommen worden. Sie wollten die Sache vorläufig nicht melden, aber wie lange würde das möglich sein? Distanziert und mit trockenen Augen betrachtete Cindy ihre Umgebung.
Der Streß machte sich bemerkbar. Sie zitterte, nicht aus Furcht, sondern weil ihre Nerven bloßlagen. Zum Schlafen war sie viel zu aufgedreht. Wenn sie den Rest der Nacht wach und klarbleiben wollte, brauchte sie einen Plan. Zwei Möglichkeiten: entweder sie konnte ihr Schicksal beklagen und irgendwann ausflippen, oder sie wahrte ihre Distanz und tat so, als sei sie die erste Polizistin am Tatort.
Dafür brauchte sie Stift und Papier, um sich Notizen zu machen. Ob sie so was überhaupt noch besaß? Ihr Büromaterial hob sie in einer Küchenschublade auf, und die waren während der Verwüstung fast alle ausgekippt worden. Sie war ruhelos, fühlte sich elend, von einem unbekannten Jäger mit unklaren Absichten verfolgt. War das nur eine Warnung? Wenn er ihr wirklich etwas antun wollte, warum verwüstete er dann ihre Wohnung? Schreib das auf.
Also alles wieder auf Anfang: Stift und Papier. Übermüdet und schwerfällig schlurfte sie in die Küche, öffnete die Büroschublade. Jetzt war ihr Besteck darin untergebracht. Sie nahm den Besteckkasten heraus, öffnete die Besteckschublade, in der nur noch ein Dosenöffner und der Kaffeemeßlöffel lagen. Das Holz war noch feucht; Oliver hatte die Schublade ausgewischt. Cindy legte den Büchsenöffner und den Meßlöffel in den Besteckkasten und stellte ihn in die angestammte Schublade. Die andere war jetzt leer. Keine Schreibutensilien da. In der Nähe gab es einen Drugstore, der vierundzwanzig Stunden geöffnet war. Cindy hatte schon immer wissen wollen, wer eigentlich morgens um vier einkaufte. Sie zog ihren Mantel über, nahm ihre Handtasche, vergewisserte sich, daß ihre Waffe griffbereit war. Als letztes holte sie die Schlüssel raus. Ein Blick aus dem Fenster — nur merkwürdige, leblose
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